»Strampel nicht so!« rief Sturm Caramon außer Atem zu. »Du verbrauchst deine ganze Kraft. Jetzt mal immer langsam.«
Das Wasser war merkwürdig warm und trüb, mehr braun als blaugrün. Ihr Strampeln wirbelte Blasen und schleimige, klebrige Pflanzen auf. Stechender Gestank drang in ihre Nasen.
Plötzlich erschütterte eine furchtbare Explosion ihre Ohren. Beide Männer drehten so schnell den Kopf, daß sie durch den Nebel sahen, wie die Venora in einem großen Ball aus Feuer und Rauch aufging. Die Strömung hatte das Schiff bereits weit davongetrieben. Das andere Schiff, von dem Caramon kaum etwas gesehen hatte, war im Dunst verschwunden.
Caramon und Sturm sahen minutenlang zu, wie die Überreste des Schiffes brennend in die Wellen sanken. Fast wie auf Befehl senkte sich dann der schwere, warme Nebel herab, der alles bis auf die unendlichen Wogen des Ozeans verdeckte.
Während sie sich bemühten, über Wasser zu bleiben, hatten Caramon und Sturm dieselben, unausgesprochenen Gedanken.
Wo waren sie? Was war eigentlich passiert? Wie zum Henker sollten sie jemals Tolpan finden und retten? Oder sich selbst?
Obwohl er seine guten Freunde Caramon und Sturm wirklich vermißte, und obwohl er wirklich Rettung nötig hatte, amüsierte sich Tolpan Barfuß recht gut.
Richtig, er steckte in einem kleinen Verschlag mit eisernen Riegeln im Unterdeck des Minotaurenschiffes, das schlimmer stank als ein Berg toter Stinktiere. Auch richtig, er war ein Gefangener der Minotauren, der Oger mit den Schwimmhäuten – er hatte erfahren, daß sie Orughi genannt wurden – und der verkommenen, menschlichen Seefahrer, die ihn jederzeit umbringen konnten.
Aber insgesamt war er bis jetzt ziemlich gut behandelt worden. Sarkis hatte ihm seine Taschen und Beutel zurückgegeben. Ja, der Kommandant des Schiffes hatte so getan, als wären die Sachen des Kenders unantastbar und unter Tolpans Schutz sogar sicherer. Tolpan konnte stundenlang seine zahlreichen Schätze durchgehen, und jetzt mußte er schließlich viel Zeit totschlagen. Er wünschte, er hätte Raistlin nicht die magische Flaschenpost geschickt, denn jetzt wäre der Zeitpunkt dafür noch wesentlich besser gewesen.
Tolpan bekam reichlich Schlaf. Und seine Wärter gaben ihm den Umständen entsprechend ordentliches Essen, meistens eine fettige, klumpige Fleischsuppe, die ganz gut schmeckte, wenn man sich daran gewöhnt hatte. Die Suppenschalen wurden manchmal von Affen gebracht, die in Scharen auf dem Schiff herumsprangen und als Küchenhilfen dienten. Besonders einen von ihnen, einen birnenförmigen, wolligen Affen, lernte Tolpan recht gut kennen. Er gab ihm den Spitznamen »Oh-Tick« – nach einem gewissen Wirt, an den er sich gern erinnerte. Wenn er sich mit Oh-Tick unterhielt, hatte Tolpan fast das Gefühl, daß der Affe, der lauschend den Kopf schieflegte, ihn verstand.
Tolpan bekam jede Menge interessanten Besuch. Nur sehr wenige Mitfahrer hatten je zuvor einen Kender kennengelernt oder auch nur gesehen. Also strömten sie herunter, einzeln oder zu zweit, um ihn anzugaffen und ihn hin und wieder zu necken. Ein paar Mal warfen sie Obstreste und Dreckklumpen nach ihm.
Tolpan warf die Obstreste und Dreckklumpen schnurstracks zurück, aber am besten gefiel es ihm, wenn man ihn ärgern wollte. Dieser menschliche Abschaum kannte wirklich ein paar schöne Beschimpfungen, und dies wiederum regte Tolpans Phantasie an. Er reagierte prompt mit einer Auswahl der absolut gemeinsten Sachen, die er sich je ausgedacht hatte. Ein paar seiner Besucher wurden ungeheuer wütend, und ihre Gesichter färbten sich puterrot, bevor sie davonstampften.
Die Minotauren waren würdevoller, selbst wenn sie schlimmer stanken. Sie näherten sich ihm fast respektvoll und starrten ihn in seiner einsamen Zelle an. Den Anführer sah Tolpan nur noch einmal, als Sarkis ganz allein herunterkam und minutenlang regungslos stehenblieb, um Tolpan zu beobachten. Seine Augen nahmen jede Einzelheit des Kenders wahr, vom Haarknoten bis zu den weichen Lederstiefeln. Tolpan bekam kein Wort aus dem großen, häßlichen Monster heraus.
Dogz war da anders. Verächtlich und arrogant erschien auch er, um sich Tolpan zum Spaß anzuschauen. Nach ihrer ersten Begegnung, die durch einen deftigen Austausch stachliger Bemerkungen gekennzeichnet war, kam Dogz immer wieder zurück. Tolpan fing an, gestelzte, aber erbauliche Gespräche mit dem großen Kerl zu führen, der in mancher Hinsicht ebenso neugierig auf Tolpan war wie Tolpan auf alles und jeden. Andererseits hatte er mehr Angst vor Tolpan als dieser vor ihm. Nach und nach entwickelte sich zwischen den beiden ein eigenartiges, fast freundschaftliches Verhältnis.
Dogz war ein Vetter von Sarkis, wie sich herausstellte, und hatte viel Respekt vor seinem höhergestellten Verwandten, dem er treu ergeben war. Sarkis betrachtete Dogz’ Freundschaft mit dem Kender als weiteres Zeichen einer betrüblichen Schwäche, und Dogz versuchte, sich nur noch heimlich mit dem Kender zu treffen.
»Du bist also wirklich gerne Minotaurus, hm?« fragte Tolpan, weil ihn der wilde Stolz erstaunte, den der großspurige Tiermensch ausstrahlte. Tolpan war von Dogz fasziniert, aber der Kender wußte leider, daß Minotauren auf Krynn weitgehend verachtet wurden, auch wenn Dogz davon offenbar noch nichts gehört hatte.
»Es ist… eine große Ehre, Minotaurus zu sein«, grollte Dogz verunsichert.
»Was ist das Gute daran?« fragte Tolpan interessiert.
»Ich meine, wenn man ein Kender ist, steht einem die ganze Welt offen. Überall hat man Freunde und Verwandte, außer vielleicht unter den Theiwaren von Thorbardin, obwohl ich sicher bin, daß selbst die mich vielleicht mögen würden. Man weiß, wie man die allerbesten Karten zeichnet, und wenn man Glück hat, hat man einen praktischen Haarknoten…«
Tolpan hielt inne, denn er merkte, daß dieser Minotaurus nicht unterbrechen oder antworten würde, bevor Tolpan still wäre. Also machte Tolpan etwas, was selten genug vorkam. Er machte den Mund zu, damit Dogz sprechen konnte.
»Wir kämpfen, um zu leben, leben für den Kampf«, sagte Dogz nach einer langen Pause. Er redete stockend, aber eindrucksvoll. Seine weit auseinanderliegenden Augen sahen beinahe traurig aus, wie Tolpan fand. »Wir beugen uns niemanden. Unser Schicksal ist die Herrschaft.«
»Ziemlich schwere Last«, sagte Tolpan nachdenklich. Er war versucht, hinzuzufügen: »Selbst für eine lästige Last«, aber dann dachte er bei sich, daß er das doch besser nicht sagen sollte.
Nach ungefähr einer Woche fiel Tolpan auf, daß er seinen Lieblingsaffen, Oh-Tick, länger nicht mehr gesehen hatte, und er fragte seinen regelmäßigen Besucher nach ihm.
»Affensuppe«, sagte Dogz, der auf die Suppenschüssel in Tolpans Hand zeigte. »Dazu sind die abscheulichen Tiere an Bord. Dachtest du etwa, sie wären zum Streicheln dabei?« Dogz stieß ein schnaubendes Gelächter aus.
Oh-Ticks Schicksal bedrückte Tolpan. Und noch dazu schämte er sich. Plötzlich hatte er keinen Appetit mehr auf seine Suppe. Dogz bemerkte, daß er nicht mehr weiteraß, und fragte recht sanft für seine knurrende Stimme: »Essen Kender normalerweise keine Affen?«
»Normalerweise nicht«, antwortete Tolpan untröstlich.
»Was essen Kender denn?« fragte Dogz nachdenklich.
»Fast alles«, sagte Tolpan, »außer Affen. Besonders Affenfreunde nicht«, fügte er diplomatisch dazu.
»Wir essen immer Affensuppe«, sagte Dogz. »Es sind närrische Tiere.« Dann mitleidiger: »Tut mir leid.«
»Mir auch.« Tolpan schob sein Gesicht zwischen die Stäbe, um Dogz anzusehen. »Ich glaube, ich könnte mir vorstellen, daß es Kleiesuppe oder so etwas ist. Ich liebe die gute, alte Kleiesuppe. Ich träume von heißer Kleiesuppe mit Johannisbeeren und Honig! Ihr habt nicht zufällig eine gute, alte Kleiesuppe an Bord, oder?«
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