»Heute nacht ist zu spät. Heute abend ist vielleicht schon zu spät. Es geht nur jetzt.« Die Stimme des alten Phaetons enthielt keine Schärfe, keinen Sarkasmus, keine Kritik. Mit Ausnahme der Stimme der Sonne hatte Tanis noch nie erlebt, daß jemand eine Tatsache mit so schlichter Überzeugung aussprach.
Tanis wollte den alten Phaetonen nicht beleidigen, indem er diese Information anzweifelte, doch er erinnerte sich noch lebhaft an den Kampf mit Balkom in Burg Tantallon. Der Gedanke, sich einfach so ohne Planung oder Vorbereitung in den nächsten Kampf zu stürzen, erschreckte ihn.
Wieder spürte Nanda Tanis’ Unbehagen. »Du darfst Hoto befragen, wenn du willst. Denk jedoch daran, daß Fremden diese Freiheit fast nie erlaubt wird. Denk auch daran, daß er die absolute Wahrheit sagt. Wenn Hoto sagt, es ist so, dann ist das so. Du kannst ihn bitten, sich klarer auszudrücken.«
Diese Beschränkungen schienen Fragen überflüssig zu machen, dachte Tanis, aber er konnte wenigstens ein paar weitere Informationen bekommen. »Warum ist Eile geboten?« fragte er.
»Gestern nacht hat Nuitari seinen Höchststand erreicht. Dieser Mann führt seine Rituale immer dann durch, wenn Nuitari am höchsten steht. Heute nacht stehen Nuitari und Lunitari zusammen, wodurch die Zeit für mächtige Magie geeignet ist. Diese Kombination kehrt erst in dreiunddreißig Tagen wieder. Ich beobachte diesen Mann seit Jahren und kenne seine Gewohnheiten. Er wird sein Ritual heute nacht durchführen. Nach dem Ritual ist keiner mehr da, den man retten könnte.«
Tolpan konnte nicht länger an sich halten. »Er hat völlig recht. Ich weiß nicht, warum alle noch zögern. Ich habe Balkom gehört, wie er Rostrevors Seele angepriesen hat, und der ist nur ein Rittersohn. Denk doch mal nach, was er jetzt vorhaben muß, wo er eine echte Prinzessin gefangen hat! Ich bin dafür, daß wir sofort aufbrechen.«
Tanis schüttelte den Kopf. »Wir stimmen gar nicht ab, Tolpan. Ich glaube, unsere Gastgeber werden die Entscheidung für uns treffen.«
Nanda sah ihnen der Reihe nach in die Augen. »Die Frau, Selana, ist für uns unwichtig. Wir würden sie beschützen, wenn wir könnten, wie Hoto es versucht hat, aber sie geht uns eigentlich nichts an.
Der Zauberer, Balkom, jedoch kann ein Problem werden. Wir wissen, daß er in den Bergen seine bösen Machenschaften vor den Menschen in Tantallon verbirgt. Das allein geht uns eigentlich auch nichts an, denn, was er auch tut, seine Handlungen haben unserem Land bisher keinen Schaden zugefügt. Wir wissen aus Erfahrung, daß sich das unter Umständen ändern kann. Selbst wenn er diese Gegend verläßt und nie wieder kommt, zieht sein leeres Versteck Monster an, die versuchen werden, uns aufzulauern. Am besten beseitigen wir ihn, bevor er uns Schwierigkeit bereitet.
Wenn euch das hart vorkommt, dann müßt ihr einfach einsehen, daß wir so sind. Auf diese Weise haben wir uns seit Tausenden von Jahren vor der Außenwelt geschützt, und wir werden damit fortfahren, solange es sein muß. Im Augenblick haben wir die gleichen Interessen, und wir können zusammenarbeiten. Eure Waffen sind heraufgebracht worden. Macht euch fertig, dann können wir sofort aufbrechen.«
Tanis, Tolpan und Flint drehten sich um und sahen Phaetone, die während Nandas Rede eingetreten waren und ihre Waffen hielten. Flint nahm seine Doppelaxt mit dem langen Griff und sein Messer und steckte sich beide in den Gürtel. Tanis warf den Köcher mit Pfeilen über die eine Schulter, schlang den langen Riemen, an dem die Scheide für sein Kurzschwert hing, über die andere und hob seinen Bogen auf, wobei er den geölten Ledergriff und die weiche Krümmung des Holzes rieb. Tolpan schnappte sich seinen Hupak und den Dolch und stopfte sich mehrere Scheiben von Celes köstlichem Brot in die Taschen. Einen Augenblick später waren sie alle bereit.
Nanda wies Tanis, Tolpan und Flint an, zur Tür zu gehen. Hinter jeden von ihnen stellte sich ein Phaeton, der seine Arme um den Passagier schlang. Bevor dann einer Zeit zu Protest oder Angst hatte, kippten alle drei Phaetone nach vorn und stießen sich mit ihrer lebenden Last von der Plattform ab. Die Luft pfiff Tolpan um die Ohren, und seine Locken flatterten ihm ins Gesicht, als er auf die Erde zufiel, doch dann hörte er das typische Geräusch, als die Flügel seines Phaetons Feuer fingen, und fühlte, wie sein Gewicht in den Armen des Fliegers lastete, als sie aufstiegen. So sehr Tolpan Selana retten wollte, er hoffte doch, daß Balkoms Versteck weit entfernt war.
Selana erwachte im Geruch von brennendem Mist. Die Flammen zuckten dicht vor ihrem Gesicht. Dennoch zitterte sie in der feuchten Kälte. Sie schlug die vor Erschöpfung matten, blaugrünen Augen zögernd auf.
Die Meerelfin saß allein auf dem schmutzigen Boden einer großen, rechteckigen Höhle, die nur von dem herabgebrannten Feuer aus Mist und Brennholz in der Mitte erhellt wurde. Für eine so große Höhle war die Decke niedrig, nur ungefähr zwölf Fuß hoch. In dem schwachen Licht konnte sie gerade eben die Umrisse enger Öffnungen weit rechts und weit links am Rande ihres Blickfelds erkennen.
›Wo bin ich?‹ fragte sie sich. ›Das letzte, woran ich mich erinnern kann, ist Schwimmen… in eiskaltem Wasser… ich habe mich geschnitten… und habe wieder Elfengestalt angenommen‹.
Selana wimmerte, als sie sich an die Riesenwunde in ihrem linken Arm erinnerte – sie war vor Schmerz und Kälte und Nässe ohnmächtig geworden. Überrascht stellte sie fest, daß die Wunde nicht mehr weh tat. War sie so lange bewußtlos gewesen, daß sie verheilt war? Sie versuchte, die Wunde zu berühren und festzustellen, wie groß sie war, merkte aber, daß sie ihre Hände nicht bewegen konnte.
Erst da wurde sich Selana bewußt, daß kaltes, schweres Metall um ihre Handgelenke lag. Sie sah, daß ihre Arme in Handschellen an zwei Fuß langen Ketten steckten, die an den rauhen, pinkfarbenen Granitwänden befestigt waren. Vage erinnerte sie sich an eine Halluzination mit einem Steinminotaurus, bei dem rote Adern seinen menschenartigen Körper und den viehischen Stierkopf gezeichnet hatten. War das Wesen Wirklichkeit gewesen? Etwas hatte sie hergebracht. Wo war es jetzt?
Selana verrenkte sich erfolglos, war jedoch erleichtert, daß sie sich mit den Ketten wenigstens hinstellen konnte. Bei den Göttern, sie wünschte, sie würde begreifen, in welcher Lage sie sich befand, aber sie konnte sich an nichts mehr erinnern, was passiert war, nachdem sie sich zwischen die Felsen am Strom gekauert hatte. Ihr verletzter Arm war irgendwie geheilt, aber jeder Muskel im Körper tat ihr weh.
Plötzlich hörte die Meerelfin, wie an der engen Öffnung links etwas Schweres kratzte und zerrte. Dazu ertönte ein leises, kehliges Gestammel. Ihr Herz raste vor Angst. Mit gebundenen Händen fühlte sie sich furchtbar verletzlich und suchte verzweifelt einen Weg, wie sie sich verteidigen konnte. Sie konnte nur mit den Füßen treten, und auch das nicht sehr weit. Die ersten Silben eines Schutzzaubers gingen ihr durch den Kopf, aber sie war zu ausgepumpt, um sich an den ganzen Spruch erinnern zu können.
Das kratzende, schlurfende Geräusch hörte auf, und aus der Öffnung kam ein riesiger Kopf, der sich umschaute und in das Dämmerlicht blinzelte. Schwarze Augen blieben an Selana hängen. Das Wesen kroch weiter.
Die Meerelfin konnte sehen, daß es ein enormes, menschenähnliches Geschöpf war – ein Riese. Er konnte sich kaum durch die Öffnung quetschen. Auch in der Höhle konnte er sich nicht ganz aufrichten, sondern mußte sich ducken. Selana schätzte, daß er aufgerichtet mindestens sechzehn Fuß groß sein mußte und bestimmt mehrere tausend Pfund wog. Mit unsicherem, schwankendem Gang wackelte er langsam auf die Meerelfin zu, wobei seine langen Arme über den Boden schleiften. Unwillkürlich kauerte sich die Elfin zusammen, doch der Riese blieb fünf Fuß vor ihr stehen, weil die Höhle dort noch niedriger wurde und der Riese nicht näher kommen konnte.
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