Flint sah Tanis erschrocken an.
Der Halbelf schnippte mit den Fingern. »Ich hab’s! Wir suchen einen langen Ast. Den halten wir ihm hin und ziehen ihn an Land.« Flint nickte zustimmend und schloß sich Tanis sofort bei seiner hastigen Suche nach einem langen, festen Ast an.
Was Tolpan anging, so war der nicht gerade auf »Unfug« aus, aber er war auch nicht allzu unglücklich über das, was mit ihm geschah. Auf der tanzenden, schwankenden Eisscholle entlangzutreiben, erinnerte ihn an das Türenreiten von früher, einen sehr beliebten Wintersport der furchtlosen Kenderrasse. In seiner Heimatstadt Kenderheim hatten die Kender damals beim ersten, ausreichenden Schnee die Haustüren ausgehängt und waren auf ihnen – ob alt oder jung – im Stehen die verschneiten Hänge heruntergerutscht. Unternehmungslustigere Kender fuhren auf den Türen gern schneebedeckte Treppen hinunter, denn vielen Häusern in Kenderheim fehlten Dach oder Wände, so daß auch innen eine dicke Schneedecke lag. Die mutigsten Kender waren sogar dafür bekannt, daß sie mehrstöckige Gebäude mit Schrägdächern hinabschossen. Diese Methode war aber nicht gern gesehen, weil so viele Passanten – ganz zu schweigen von den Türenreitern – umgefahren und verletzt wurden und die Nachbargebäude unweigerlich Schaden nahmen.
Bei der Erinnerung an einen Kindheitsfreund, der mit wehendem Haarknoten von einem Haus gesegelt war, seufzte Tolpan nostalgisch. Er war jahrelang nicht mehr zu Hause gewesen, ob zum Türenreiten oder zu anderen Anlässen. Und diese Eisscholle war zwar etwas Ähnliches, kam aber doch erheblich langsamer vorwärts als eine gewachste Tür an einem Steilhang.
»Tolpan, halt dich an dem Ast fest, dann ziehen wir dich an Land«, rief Flint. Tolpan sah den Zwerg ein Stück flußabwärts am linken Ufer hocken. Er streckte ihm einen langen, dünnen Ast hin. Tanis stand hinter dem Zwerg, um jederzeit mitanpacken zu können.
»Mach schnell, bevor du an mir vorbeitreibst!« sagte Flint. »Außerdem kann ich diesen Ast nicht ewig halten!«
Tolpan kroch zum Rand der Scholle und streckte seine Hand so weit aus, wie er es wagte, aber ihn trennten immer noch mehrere Fuß von dem Halt. Angestrengt streckte er seine Finger nach der dünnen Astspitze aus. Die Strömung trieb seine Scholle näher. Wenn er nur die Spitze berühren könnte… Er drehte den Kopf zur Seite, um eine größere Reichweite zu haben, und lauerte aus den Augenwinkeln auf seine Chance.
Er spürte glatte Rinde an den Fingerspitzen! Aufgeregt legte Tolpan seine Hand um den Zweig und hielt sich fest. Flint und Tanis jubelten.
»Laß nicht los, Tolpan«, sagte Flint, der den Ast jetzt Hand um Hand zu sich her zog.
»Bestimmt nicht!«
Plötzlich gab der Boden unter dem sich abmühenden Zwerg nach und brach vom Ufer ab. Bei dem unerwarteten Ruck riß der Zwerg an dem Zweig. Das Holz, das nach einem Winter auf dem Waldboden alt und trocken war, brach in zwei ungleiche Stücke. Tolpan, der auf das plötzliche, zusätzliche Gewicht nicht vorbereitet war, ließ den Ast in den Fluß fallen, wo er zwischen den beiden Schollen unterging. Flint schaffte es, seinen Teil festzuhalten, aber leider war ihm nur ein nutzloser Stummel geblieben.
Gestikulierend rief Tanis vom Ufer aus: »Flint, der Wasserfall!«
Der Zwerg, der jetzt hilflos mit dem Kender flußabwärts trieb, sah nach vorn zu dem nahenden Wasserfall. Er konnte das Wasser unten schon tosen hören. »Völlig nutzlos!« schrie er, während er wütend seinen gebrochenen Ast hinwarf. Wasser war einfach nie zu etwas gut, dachte er verbittert.
Tanis legte beide Hände trichterförmig um den Mund und brüllte dem Zwerg und dem Kender, die auf dem Eis standen, über das donnernde Wasser hinweg zu: »Flint, Tolpan, legt euch auf den Bauch und haltet euch am Rand der Scholle fest!« Der Halbelf wußte, daß sie damit nur eine kleine Chance hatten, nicht an den Felsen zerschmettert zu werden, aber eine kleine war besser als gar keine.
»Was?« schrie Tolpan, der sein spitzes Ohr Tanis am verschneiten Ufer zuwandte.
»Ich habe gesagt – ach, guck einfach her!« Tanis warf sich auf den Bauch und breitete die Arme aus, um es vorzumachen.
Der Wasserfall war nur noch zehn Fuß entfernt.
Flint lag bereits auf dem Eis, als Tolpan plötzlich begriff. Rasch legte er sich mit ausgestreckten Armen und Beinen auf den Bauch, doch dann sah er etwas hinter Tanis’ Kopf schweben. Er blinzelte verwirrt. Flammen? Riesige Flammenzungen! Wieso stand Tanis in Flammen?
Da sah Tolpan etwas, was selbst er nur mit Mühe glauben konnte: drei kleine, menschenähnliche Wesen in einfachen Tunikas, Hosen und Stiefeln, jedes mit Flammenflügeln am Rücken. Er zwinkerte zweimal und sah wieder hin. Sie waren immer noch da.
»He!« schrie der Kender aufgeregt, sprang auf und hüpfte auf der Eisscholle herum, während er auf sie zeigte. »Tanis, Flint, dreht euch mal um! Da ist – aua!«
Tolpan wurde buchstäblich das Wort abgeschnitten, denn er biß sich vor Überraschung schmerzhaft auf die Zunge. Kräftige, kleine Hände hoben ihn an den Achseln hoch und trugen ihn in dem Moment von der Scholle fort, als diese über den Rand des Wasserfalls trieb. Als der Kender an seinen baumelnden Füßen vorbeiblickte, sah er die Eisscholle unten auf den Felsen zerschellen und dann im brodelnden Wasser verschwinden. Er merkte, daß er immer höhergetragen wurde, bis er über den Baumwipfeln flog. Daß er gerade noch dem Tod entgangen war, hatte er vor lauter Begeisterung über den Flug schon fast wieder vergessen.
Schließlich sah Tolpan nach oben. Dort erblickte er ein verkniffenes, kleines Gesicht mit Mandelaugen unter kupferroten Locken. Die Ohren liefen schön spitz zu. Tolpans Augen wanderten in sprachloser Faszination zu den auf und ab schlagenden, knisternden Flammenflügeln über den schmalen, feinknochigen Schultern des Wesens.
»Was bist denn du?« fragte Tolpan, und seine Augen funkelten vor Neugier. »Sind das echte Flügel, oder ist das nur Feuer? Wenn du in Flammen stehen würdest, hättest du ja bestimmt keine Zeit, andere Leute von Eisschollen zu retten, stimmt’s? Ich habe auch schon mal gebrannt«, fuhr er fort.
»Meine kleine Schwester hat mir nämlich den Schuh angezündet. Ich konnte zwar nicht fliegen, aber ich muß sagen, ich bin mächtig schnell gerannt, bis es mir jemand löschen konnte. Aber das ist doch irgendwie was anderes, oder?«
Tolpan wartete auf eine Antwort von dem rötlichen Kerl, aber der sagte nichts. Sein Gesicht verriet nur Konzentration, während er mit seiner Last auf ein unbekanntes Ziel zusteuerte.
»Kannst wohl keine Gemeinsprache, hm?« folgerte Tolpan. »Macht nichts. Nicht jede Rasse ist intelligent genug dafür. Dann weiß ich allerdings nicht, wie wir uns unterhalten sollen. Immerhin spreche ich etwas Troglodytisch – fast fließend«, erklärte der Kender stolz, »auch wenn ich bestimmt kein Wort lesen könnte.« Er runzelte die Stirn. »Ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, daß man Troglodytisch schreiben kann.«
Der Gesichtsausdruck des Wesens wurde noch verkniffener. »Ich beherrsche sechs Sprachen in Wort und Schrift, wie alle Phaetone«, sagte er schließlich gestelzt, »auch wenn das Pfeifen und Schmatzen, das der armseligen Rasse der Troglodyten als Sprache dient, nicht dazugehört.« Damit machte der Phaeton seinen Mund wieder fest zu.
»Wo wollen wir denn hin?« fragte Tolpan unschuldig. Er bemerkte, daß nicht weit entfernt ein weiteres Flügelwesen Tanis über die Baumspitzen trug und unter ihnen zwei den beleibten Zwerg schleppten, der gegen ihren Griff anzukämpfen schien – was Tolpan ziemlich dumm vorkam. Tolpans Phaeton ließ sich weder durch Anstacheln noch durch Beleidigungen dazu bewegen, weitere Informationen preiszugeben.
Mit fremder Kraft zu fliegen, war lange nicht so angenehm, wie selbst zu fliegen, dachte Tolpan, als er diesen Ausflug mit jenem verglich, wo er selbst der Vogel gewesen war. Als Kender konnte er nicht so scharf sehen wie als Sperling, auch wenn ihm seine eigenen Augen vertrauter waren. Eines war sicher – fast alles konnte besser sehen als eine Fliege.
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