Nanda nahm die Schüssel mit der jetzt heißen Suppe vom Herd und füllte einen Teller mit reichlich orangeroten Möhren, grünen Zuckererbsen, ganzen Perlzwiebeln und kleinen Stückchen zartem Fleisch in leckerer, brauner Soße.
Tolpan fühlte sich wie im Himmel. Er hielt sich für einen echten Feinschmecker und war auch selbst ein ganz passabler Koch. Nach jedem Löffel schloß der Kender die Augen und genoß den köstlichen Geschmack, für den die genau richtige Menge frischer Kräuter sorgte.
»Hätte ich mir gleich denken können, daß er am Essen ist«, knurrte eine tiefe, vertraute Stimme. Tolpan schlug die Augen auf und sah Flint und Tanis mit drei weiteren Phaetonen in der Tür stehen. Der offensichtlich erleichterte Ausdruck in seinen Augen strafte die harten Worte des Zwergs Lügen. Nach dem neuerlichen Flug zupfte er seine Kleider zurecht.
»Ich freue mich, daß bei dir alles in Ordnung ist, Tolpan«, sagte Tanis, der zögernd von Tolpan zu den neben ihm stehenden Phaetonen schaute. Nanda nickte den Fliegern zu, und sie breiteten die Flügel wieder aus und flogen davon.
»Ihr könnt euch frei bewegen. Kommt, gesellt euch zu eurem Freund am Tisch«, sagte Nanda, der Tanis und Flint aus dem kleinen Vorraum in das Zimmer mit dem Herd winkte. Lächelnd legte Tanis dem Kender die Hand auf die Schulter, während Flint seinem Oberarm stirnrunzelnd einen leichten Puff versetzte.
»Ich bin Nanda Lokir«, sagte der Anführer der Phaetonen, der Tanis die rechte Hand entgegenstreckte. Der Halbelf reichte ihm die seine, doch der Herrscher schob die eigene Hand daran vorbei und ergriff den Oberarm des Halbelfen. Tanis begriff schnell und umfaßte seinerseits den Arm des Phaetons.
»Tanis, der Halbelf«, sagte er und nickte dann zu dem Zwerg hin. »Flint Feuerschmied.« Flint streckte die Hand aus, und Nanda stellte seine Familie vor. Der Alte hielt sich zurück, ignorierte ihre ausgestreckten Hände und nahm sie alle kaum zur Kenntnis. Tolpan bemerkte, wie Tanis und Flint sich verwirrt ansahen.
»Normalerweise töten sie Eindringlinge«, erklärte der Kender leise hinter vorgehaltener Hand, »aber bei uns machen sie eine Ausnahme. Nanda will, daß wir ihm irgendwie helfen, und ich habe den Eindruck, daß der Alte mit der ganzen Situation nicht glücklich ist.«
Der Halbelf wandte sich an Nanda. »Wir sind euch äußerst dankbar, daß ihr uns aus dem Fluß gerettet habt«, fing er an, »aber könntet ihr uns bitte sagen, warum wir festgehalten werden?«
»Und zwar ohne unsere Waffen?« fügte Flint hinzu. Tolpan merkte jetzt erst, daß sein Hupak und sein Dolch wie weggezaubert waren. Auch Tanis’ Bogen und Flints Axt fehlten.
Mit verschränkten Armen nickte Nanda. »Das werdet ihr alles zur rechten Zeit erfahren. Jetzt eßt erst mal. Ihr seid schwach vor Hunger.«
Obwohl sie verunsichert waren, konnten der ausgehungerte Halbelf und der Zwerg das nicht abstreiten. Sie griffen nach den Tellern, die Cele ihnen anbot, und aßen, während die Phaetone zusahen. Das leckere Essen spülten sie mit einem dunklen, vollmundigen Bier herunter, das so süß wie Milch schmeckte.
»Allerbestes Bier, nur noch von Zwergenschnaps zu übertreffen«, sagte Flint, als er seinen leeren Teller mit einem Rülpser zurückschob, der seinen Schnurrbart aufplusterte und die Krümel wegblies. Nachdem sie Cele gedankt hatten, sahen die drei aus Solace erwartungsvoll Nanda an.
»Wir leben sehr zurückgezogen«, begann das Oberhaupt der Familie und der Siedlung. »Bei den Phaetonen gilt das Gesetz, aus einer Gruppe Eindringlinge einen zu entführen und ihm einen Wahrheitstrunk zu verabreichen, um von ihm die Herkunft, das Ziel und das Vorhaben einer Gruppe zu erfahren. Wenn uns die Antworten mißfallen oder wenn wir Unwahrheiten darin entdecken, werden die Eindringlinge normalerweise getötet.
Mit dem Wahrheitstee enthüllte uns der Kender eine so schwindelerregend verwickelte Geschichte, daß wir wußten, daß sie nicht erfunden sein konnte. Außerdem hat er unser Tal überhaupt nicht erwähnt, sondern statt dessen gesagt, ihr wärt auf der Suche nach einer jungen Frau und einem Zauberer.« Um seine Worte wirken zu lassen, machte Nanda eine Pause. »Wir wissen, wo die beiden sind, und glauben, daß die junge Frau in großer Gefahr schwebt.«
»Ihr habt sie gesehen?« fragte Tanis, der sich besorgt vorbeugte.
»Hoto hat sie gesehen«, sagte Nanda mit einem Blick auf seinen Urgroßvater mit der Kupferhaut, der sich von der Gruppe fernhielt.
»Zuerst muß ich euch etwas erklären. Urgroßvater Hoto ist Verda, ein Ältester. Aus Gründen, die wir nicht verstehen, sterben manche Phaetone nicht an Altersschwäche. Statt dessen überkommt sie mit ungefähr neunzig Jahren – unserer normalen Lebenserwartung – der Wunsch, zur Sonne zu fliegen. Sie steigen immer höher und höher, bis entweder Erschöpfung oder Sauerstoffmangel oder beides sie das Bewußtsein verlieren läßt. Wenn sie wieder nach Krynn zurückfallen, findet eine wundersame Verwandlung statt. Sobald sie – immer noch viele tausend Fuß über der Erde – ihre Sinne wiedererlangen, entdecken sie, daß sie zu Verda geworden sind. Sie sind gewachsen, ihr Haar ist schneeweiß, die Spannweite ihrer Flammenflügel, ihre Beweglichkeit und ihre Ausdauer sind größer, während sie gleichzeitig weniger Nahrung, Wasser und Schlaf brauchen. Dann werden sie oft dreihundert Jahre alt.
Da sie von Natur aus Einzelgänger sind und abseits der Siedlung leben, dienen uns die Verda als Wachposten. Das erzähle ich euch, weil Urgroßvater Hoto den kahlköpfigen Zauberer schon seit Jahren einmal im Monat in die Berge fliegen sieht. Sein Ziel liegt genau vor der Grenze unseres Tals. Hoto ist schon lange davon überzeugt, daß er böse Absichten verfolgt.
Da er wußte, daß die Zeit für das Kommen des Zauberers nahte, hat Hoto gestern auf ihn gewartet. Bei Anbruch der Dunkelheit überraschte ihn der Anblick eines sehr großen, ungewöhnlichen Fisches, der denselben Fluß hochschwamm, aus dem ihr gerettet wurdet. Unter Hotos Augen verletzte sich der Fisch anscheinend ernsthaft, denn er zog plötzlich lange Blutspuren hinter sich her. Und was noch erstaunlicher war, der Fisch wurde vor seinen Augen zu einer geisterhaft blassen, hellhaarigen, jungen Frau, die aus dem Fluß an Land stieg!«
»Das war Selana!« rief Tolpan.
»Diese Selana hatte eine ernsthafte Wunde an der Seite«, fuhr Nanda fort, »und sie trug eigentlich nur noch Fetzen am Körper, die in der kalten Luft rasch gefroren. Hoto brach schnell auf, um sie zu retten, aber sie war sehr weit entfernt. Bevor er bei ihr war, geschah etwas noch Merkwürdigeres. Aus dem Nichts erschien ein Wesen. Hoto behauptet, es hätte wie ein Minotaurus ausgesehen, aber es war kein richtiges Lebewesen. Es war eine monströse Schöpfung aus belebtem, weißem Stein. Dieses Ding hob die Frau auf und trug sie in den Berg, und zwar dorthin, wo der Zauberer jeden Monat hingeht.«
»Das ist perfekt«, erklärte Tolpan. »Wir haben Balkom, das Armband und Selana alle zusammen am selben Ort. Sogar Rostrevor, der Knappe, ist ganz sicher da. Da können wir alle auf einmal retten.«
Zum ersten Mal sprach Hoto zu der Gruppe. Er bewegte sich nicht, sondern saß weiter auf seinem Hocker und starrte ins Feuer. »Alle, die ihr retten wollt, müssen heute noch gerettet werden.«
Tanis drehte sich mit gerunzelter Stirn zu Nanda um. Die Gesellschaftsstruktur der Phaetonen war ihm völlig fremd, aber sie hatten offenbar eine strenge Hierarchie. Er wollte bestimmt als letztes die Leute beleidigen, die seine besten Verbündeten sein konnten. Nanda verstand Tanis’ schweigende Bitte und redete ihn an. »Sprich, Tanis Halbelf, aber halte dich bei allem, was du sagst, an die Wahrheit.«
»In Anbetracht von Hotos Feststellung«, fing Tanis an, »schlage ich vor, daß wir Balkoms Versteck heute nacht angreifen. Wir haben diesen Mann bisher wenig erfolgreich bekämpft, aber wenn wir ihn überraschen, können wir ihn vielleicht schlagen.«
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