Während die murmelnden Wachen vorbeizogen, amüsierte sich Realgar mit seinen Plänen für Mord und Revolution. Seine Armee blutrünstiger Theiware war bereit für den Kampf um die Städte, und Sturmklinge hing schwer an seinem Gürtel unter seinem Mantel. Das Königsschwert schien rastlos und hungrig zu atmen.
Er schloß mit Hornfells Wachen auf.
Der Gang zur Brücke über das Amboßecho war nicht völlig finster, obwohl es Kelida nach den einladend erleuchteten Straßen von Thorbardin so vorkam. Ihre Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an das graue Licht gewöhnt hatten, das schwach in den steinernen Gang drang. Es war kein Licht von außerhalb des Berges, sondern ein zarter Widerschein von der stärkeren Beleuchtung durch die glitzernden Kristallschächte, die das Sonnenlicht in die eigentliche Stadt lenkten.
Als ihre Augen besser sehen konnten, schrak sie zurück und landete in Hauks Armen, der dicht hinter ihr stand. Die Brücke führte durch eine gleichzeitig so hohe und so tiefe Höhle, daß sie Kelida, die weder Decke noch Boden sah, grenzenlos vorkam. Niedrige Steinbrüstungen säumten beide Seiten der Brücke. Kleine Zwergenstatuen hielten das Geländer mit starken Steinarmen hoch, als ob sie Posten stünden.
»Stanach«, flüsterte sie. Das Flüstern floh als endloses Echo durch die Höhle. Kelida schluckte angestrengt und berührte Stanachs Schulter, damit er sie beachtete.
Mit der Hand am Schwert, das er in der Stadt aufgetrieben hatte, drehte sich Stanach um, und Kelida hielt die Luft an. Wie er in den Höhlen weit unter den Städten gesagt hatte, waren seine Augen jetzt nur weite, schwarze Pupillen, geisterhaft und leer. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter.
Der Zwerg grinste spöttisch. »Hab ich’s dir nicht gesagt? Erschreckt einen, wenn man nicht daran gewöhnt ist, hm?« Mit seiner verbundenen Rechten tätschelte er ihr den Arm. »Ich bin’s, kleine Schwester, nur ich.«
… ich, nur ich… ich… ich…
Kelida erschauerte, fühlte dann jedoch Hauks Hand zögernd, aber warm auf ihrer Schulter. Seine Worte jagten ebenfalls durch die Höhle, als er sprach.
»Ich mag dieses Loch nicht, Stanach. Was macht Hornfell hier? Wir hätten euren Rat der Lehnsherren um Hilfe bitten sollen.«
Das wäre Stanachs erste Wahl gewesen, aber die Theiwarwache, die sie in einem kalten, dunklen Gang nahe der Drachenhöhle überwältigt hatten, hatte ihre Fragen nach Realgar und seinen Plänen nur mit frechem Lachen und stolzem Prahlen beantwortet: »Hornfell liegt jetzt tot am Nordtor!«
In stummem Einverständnis hatte Stanach Kelida weitergezogen, während Hauk noch einen Moment bei der Theiwarwache blieb, bevor er ihnen nachkam. Er hatte den Theiwar tot im Schatten des Ganges liegenlassen.
Das freudige Prahlen der toten Wache hatte Stanach mit Zorn und Verzweiflung erfüllt, die erst nachließen, als die drei die oberen Ebenen der Stadt erreichten. Es war Hauk, der herausfand, daß die Worte der Wache nicht der Wahrheit entsprachen. Zumindest noch nicht.
»Sieh hin«, sagte er, während er auf einen Marktplatz, eine Taverne oder einen Park zeigte. »Das Volk ist nervös, Stanach, aber sie benehmen sich nicht wie Leute, deren Anführer tot ist.«
Stanach stimmte zu, und Hoffnung keimte in ihm auf. Vielleicht kamen sie doch nicht zu spät, um Hornfell zu helfen. Die Stimmung in Thorbardin war von schwelender Angst geprägt.
Thorbardin witterte einen Sturm und wußte, daß der Blitz bald losschlagen würde, und niemand wußte, aus welcher Himmelsecke er kommen würde.
Stanach schreckte aus seinen Gedanken hoch und zeigte auf die Dunkelheit um sie herum. »Das ist Theiwargebiet, nicht einmal Abenteurer wagen sich hierher. Die Brücke müßte jedoch sicher sein.«
Gefolgt von den Echos ihrer Schritte, die wie verstohlene Geister verhallten, betraten die drei die Brücke.
Als Kelida losging, zählte sie die Schritte, um sich von dem scheinbar endlosen Abgrund abzulenken. Obwohl die Brücke so breit war, daß sie nebeneinander hätten gehen können, kam sie Kelida immer noch zu schmal vor.
Der Widerhall ihrer Schritte wurde lauter, als ob es von nahen Wänden zurückgeworfen wurde. Kelida seufzte, woraufhin das Geräusch wie Wind durch die Schlucht raunte. Die Brücke über das Amboßecho lag hinter ihnen. Stanach warf einen Blick zurück, um sie dann wortlos vorwärts zu winken.
Sein unterirdischer Orientierungssinn war so scharf wie der eines Elfen im Wald und leitete sie unfehlbar in Richtung Norden. Sie kamen an Wänden vorbei, die schwarz vom Feuer und weiß von den Narben des Kampfes waren. In dunklen Ecken lagen die Skelette von Kriegern, die seit dreihundert Jahren tot waren. Leder und Stoff von ihren Kleidern waren längst verrottet, doch die brüchigen Knochen ihrer Hände umklammerten immer noch geborstene Schwerter. Rostige Kettenhemden und durchbohrte Rüstungen hingen an dem, was einst lebende Körper gewesen waren.
Kelida blieb dicht hinter Stanach, und die gleichmäßigen Atemzüge von Hauk hinter ihr trösteten sie wenigstens etwas.
Nach einer Weile, während der sie in der undurchdringlichen Schwärze nur langsam vorwärts zu kommen schienen, milderte Licht wie grauer Nebel die Finsternis um sie herum.
Kelida konnte den hohen Umriß eines Gebäudes mit Kuppeldach ausmachen, in das breite Steinstufen führten. Sie waren nicht mehr in den Felsentunneln, sondern auf einer Art Platz.
»Der Tempel«, hauchte Stanach. »Wir sind kurz vor dem Torhaus. Hört nur!«
Wie Echos aus der fernen Vergangenheit drang der Klang von klirrenden Rüstungen und metallbeschlagenen Stiefeln, die über den Stein kratzten, an ihre Ohren. Ein Schauder kroch Kelida über den Rücken. Hauks warme Hand auf ihrer Schulter ließ sie zusammenzucken.
»Ganz ruhig«, zischte Stanach. »Das ist nur der Wachwechsel. Und wahrscheinlich ein gutes Zeichen. Ganz gleich, was Realgar plant, er kann Hornfell kaum vor zwei kompletten Wachmannschaften ermorden.«
Einst mußte der Tempel so schön wie die anderen in Thorbardin gewesen sein. Dann war die kuppelförmige Decke eingebrochen, die sich stolz über dem Tempel erhoben hatte. Einige Stücke lagen auf dem staubigen, schwarzen Marmorboden, und unter den Staubschichten sah man tief in den Stein gemeißelte Sterne, die noch schwärzer waren als der Marmor.
Zuerst wunderte sich Kelida, warum der Künstler, der diesen Dom geschaffen hatte, die Sterne schwärzer als den Himmel darstellte. Dann erkannte sie, daß diese Sterne mit ehemals glänzendem Silber ausgelegt waren. Dieses jetzt vom Alter angelaufene Silber mußte das Licht der Fackeln wie den verspielten Reigen der echten Sterne widergespiegelt haben.
Säulen aus rosafarbenem Marmor, manche geborsten und umgestürzt, andere noch unversehrt, säumten den breiten, rotgefliesten Gang zum Hauptaltar. Dort stand ein sieben Fuß hoher Amboß von fünf Fuß Breite. Der ganze Altar war aus einem einzigen Obsidianblock gehauen. Zu Füßen des Amboß lag etwas, das wie der Stiel eines Riesenhammers aussah.
Ein Tempel für Reorx, dachte Kelida. Wie schön mußte er gewesen sein! Sie erschauerte bei dem Gedanken, daß so nahe an einem einstigen Heiligtum ein Mord stattfinden sollte.
Stanach schlüpfte hinter den Altar und fand eine Tür für Kleriker. »Von hier aus müßten wir direkt in den großen Saal gelangen. Das Ganze ist ein Teil des Nordgerichtshofs. Einst diente der Tempel den Besuchern des Königreichs. Jetzt ist er eine Ruine. Von hier ab sollten wir leichter vorwärts kommen. Die Theiware mögen zwar Dreck und Geröll, aber das Torhaus ist freigeräumt, falls eine Wache aufgestellt wird.«
Hauk war dicht hinter ihm. Er sprach in einem kaum vernehmbaren Flüsterton. »Was liegt dahinter?«
Noch bevor Stanach antworten konnte, kam ein hoher, entsetzlich schmerzerfüllter Schrei von draußen. Die Echos dieses schauerlichen Schreis waren noch nicht ganz verklungen, als ein Alarmruf und dann ein weiterer folgte.
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