Wie ein Bolzen von einer fest gespannten Armbrust zischte Stanach durch die Tür des Klerikers.
Hauk ergriff Kelidas Handgelenk. In seinen Augen lag Angst um sie und ein seltsames, wildes Verlangen, das überhaupt nichts mit ihr zu tun hatte. Kelida wich einen Schritt zurück, weil sie die Lust am Kämpfen erkannte.
»Bleib hier«, blaffte er. Dann, als ihm die Barschheit seines Befehls bewußt wurde, oder weil er merkte, daß ein Befehl von ihm sie nicht zurückhalten konnte, wenn sie sich in den Kopf setzte, ihm zu folgen, sagte Hauk: »Verteidige diese Tür. Wenn wir Hornfell noch helfen können, ist das wahrscheinlich unser einziger Fluchtweg.«
Er wartete nicht ab, ob sie ihm gehorchte.
Während die Kampfgeräusche jetzt in ihrer Nähe anschwollen, schluckte Kelida allein gelassen den Drang hinunter, ihm nachzurufen. Sie zwang sich zu bleiben, wo sie war, und ihm nicht nachzurennen. Er hatte wie ein fremder, herzloser Krieger ausgesehen, den es zum Töten drängte.
Kelidas Finger glitten kalt und trocken über den Griff ihres Dolches. Die kleine Waffe fühlte sich gleichzeitig schwer und leicht in ihrer Hand an. Wie eine blasse Erinnerung, die schon lange, lange der Vergangenheit angehörte, flüsterte Lavim ihr seine fröhlichen Lektionen ein.
Und dann kann man mit einem Dolch noch stechen.
Kelida versuchte angestrengt, die aufkommende Übelkeit in ihrem Magen und die Schwäche in den Knien zu bekämpfen, und näherte sich dem Durchgang. Stechen…
Die große Halle hinter dem Tempel war nur wenig heller als die ungenutzten Teile von Nordtor, aber das Licht war gleichmäßiger. Kelida konnte sehen, daß Realgar tatsächlich während des Wachwechsels versucht hatte, Hornfell umzubringen. Zwergenkrieger im Schwarz und Silber der Theiwaren strömten auf den Platz und fielen über die Wache her, der sie fast ums Doppelte überlegen waren.
Der Kampf tobte durch die Halle. Stahl klirrte, Stimmen brüllten. Sieges- und Todesschreie waren kaum auseinanderzuhalten. Der Platz stank nach Blut und Angst.
Im Zentrum des Getümmels kämpfte ein einzelner, schwer belagerter Zwerg um sein Leben. Nichts hob ihn als obersten der Hylaren hervor. Hornfell war lange ein Krieger gewesen, bevor er Lehnsmann wurde.
Es war ihm noch eine Wache geblieben, ein junger Zwerg im Rot und Silber der Wachmannschaft. Rücken an Rücken mit Hornfell hielt er alle Angreifer mit der entfesselten Tapferkeit eines Wolfshunds auf Abstand. Zu diesen beiden stürmte Stanach. Hinter ihm hielt Hauk ihm den Rücken frei.
Kelida bewegte sich, ohne nachzudenken. Sie war erst sechs Meter in die Halle vorgedrungen, als das Kampfgetümmel zwischen sie und ihre Freunde trat.
Etwas traf sie hart im Rücken. Ein Arm schlang sich um ihre Knie, und sie fiel hin, bevor sie schreien konnte. Panisch umklammerte sie den Griff ihres Dolches. Dann warf sie sich mit aller Kraft herum, trat mit dem rechten Fuß zu und landete auf den Knien.
Jetzt schrie sie, aber nicht vor Angst. Sie schrie mit der Wut von jemand, der den eigenen Tod von den Augen des Gegners ablesen kann.
Stechen ist lustig… Stich nicht nach unten, wenn du im Nahkampf bist. Da triffst du nur Knochen und reizt den anderen. Stich von unten hoch. Dann hast du eine wirklich gute Chance, etwas Wichtiges zu treffen, wie Leber oder Niere…
Mit beiden Händen riß Kelida ihren Dolch nach oben. Stahl kratzte über Rüstung, und die Klinge blieb irgendwo hängen. Vor Verzweiflung keuchend zielte Kelida erneut und stach den Dolch mit aller Kraft von unten nach oben in den Hals des Zwergs.
Das Blut sprudelte wie eine rote Fontäne heraus, und der Theiwar sank zurück.
Würgend von dem metallischen Geruch des warmen Bluts kam Kelida wieder auf die Beine. Wieder traf sie etwas von hinten. Sie fuhr blind herum und stieß zu. Als sie verfehlte, trat sie einfach um sich. Ihr Angreifer fiel japsend zu Boden. Instinktiv zog Kelida das Knie in die Höhe. Sie hörte und fühlte gleichzeitig, wie der Kiefer des Zwergs brach.
Mit klopfendem Herzen fuhr Kelida herum und hatte einen Augenblick Ruhe.
Während sie den Drang, sich zu übergeben, zu schreien oder davonzurennen, bekämpfte, suchte Kelida die blutbesudelte Halle nach ihren Freunden ab. Die schwarzsilbernen Wachen waren zwar nicht mehr so zahlreich, doch es waren immer noch mehr als Hornfell und seine Leute. Wie ein wütender Bär ragte Hauk aus den kämpfenden Zwergen heraus und hielt immer noch jeden Angreifer von Stanachs Rücken fern.
Stanach war jetzt nur noch eine Armeslänge von seinem Lehnsherrn entfernt. Mit dem Schwert trennte er einem Theiwar den Kopf von den Schultern. Er trat die Leiche beiseite und griff mit seiner rechten Hand, deren Verband fleckig und blutig war, nach Hornfell.
In diesem Moment starb der tapfere Wachmann, Hornfells letzter Verteidiger, an einem Theiwardolch, der ihm bis ans Heft zwischen die Rippen gestoßen wurde. Als Stanach seinen Lehnsherrn berührte, fuhr dieser herum.
Hornfell war mit dem Blut der toten Wache bespritzt. Seine Augen glühten weit aufgerissen vor unbändiger Wut, als er sein Schwert zu einem doppelhändigen Schlag hochriß.
Kelida schrie.
»Freund!« brüllte Stanach. »Hornfell! Freund!« Es war nicht Stanachs lautstarke Versicherung, die Hornfell davon überzeugte, daß er kein Feind war. Es war die einfache Tatsache, daß Stanach – noch während er »Freund« brüllte – seine Behauptung bewies, indem er einem Theiwar den Arm aufschlitzte, der seinem Lehnsherrn mit einem tödlichen Kurzschwert in den Rücken fallen wollte, und auf dem Rückweg einem weiteren von Realgars Kriegern den Bauch aufriß.
Hornfell fletschte die Zähne zum grüßenden Lachen der Krieger. Doch, das war ein Freund. So wie der vierschrötige Mensch, der Stanachs Rücken deckte. Seine Schwertklinge war vom Blut gerötet, und das Licht in seinen Augen leuchtete wie Guyll Fyr.
Stanach sah sich wild in der großen Halle um. Er suchte den Ort ab wie ein Wolf, der von Jägern in einer Schlucht gestellt wurde. Wie ein Wolf wollte er einen Ausweg aus der Falle, und dieser Wunsch ließ jeden Muskel zucken. Als er das Schlupfloch gefunden hatte, leuchteten seine Augen auf.
Die Wache hatte Realgars Theiware einen Augenblick von Hornfell weggetrieben. Im Moment war er daher nur noch von den beiden Neuankömmlingen bewacht.
»Wer ist im Torhaus?« brüllte Hauk.
»Niemand.« Hornfell holte tief Luft und blickte auf den Daewar, der für ihn gestorben war. »Da wollten wir hin, als Realgar angriff.«
Der junge Mann zuckte grinsend die Achseln. »Also dann los. Stanach?«
Stanach nickte, während er immer noch die große Halle absuchte, als ob er nach jemandem Ausschau hielte. Hornfell hörte ihn leise fluchen. Stanach stieß seinen Kameraden mit dem Ellbogen in den Rücken und zeigte mit der blutbefleckten, verbundenen Rechten in eine Richtung.
Ein Menschenmädchen mit blutigen Händen und einem Gesicht, das so weiß war wie Solinari, stand mit dem Rücken zu einer der hohen, tragenden Säulen. Sie wehrte drei Zwerge in schwarzsilbernen Uniformen mit einem Dolch ab, und wenn der sein Ziel verfehlte – was oft der Fall war –, trat sie heftig um sich. Das Mädchen war unterlegen und würde sich nicht mehr lange halten können.
»Hauk! Da ist Kelida! Hol sie und rennt zum Torhaus!« Stanach faßte sein Schwert fester und nickte seinem Lehnsherrn kurz zu. »Ich decke deinen Rücken, Hornfell.«
Stanach war die einzige Deckung, die er hatte, doch Hornfell vertraute auf ihn. Er rannte zum Torhaus.
Pfeifer untersuchte, sooft er konnte, die Grenzen seiner Zwischenwelt und entdeckte jedesmal, daß er mehr Spielraum hatte als zuvor. Es war nicht so sehr eine Frage der Fähigkeit weiterzukommen, sondern eine Frage der Fähigkeit, mehr zu wissen.
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