»Isarn«, sagte Hauk ungerührt. »Ich glaube nicht, daß er tot ist. Ich – er hat mich hierher geführt, und wir haben dieses Schreien und Brüllen gehört. Er ist zuerst reingegangen und muß gesehen haben, wie der Drache wegflog.«
Wie Hauk vermutet hatte, war der alte Meister nicht tot. Noch nicht. Er lag in den Schatten und atmete kurz und flach. Stanach erkannte ihn kaum. Der Wahnsinn, der so lange an seinem Verstand gezerrt hatte, und der Kummer, der genausolange seine Seele gequält hatte, waren auch äußerlich sichtbare Zeichen geworden. Der alte Zwerg war abgemagert. Seine einst starken Arme waren nur noch Haut und Knochen. Sein früher voller, sauberer und immer schneeweißer Bart war struppig, verfilzt und schmutzig.
Die sanft starrenden Augen zwinkerten nicht einmal, als Stanach sich näherte.
Er fiel neben ihm auf die Knie. Einst hatten diese trüben braunen Augen im Geist Isarns Meisterstück geschaut. Einst hatten sie das erste Licht von der Klinge des Königsschwerts strahlen sehen. Stanachs Herz krampfte sich zusammen.
»Meister«, flüsterte er. Der alte Titel kam ihm leicht von den Lippen. »Meister Isarn.«
Diese Stimme kannte der Alte gut, und lange hatte er sie nicht gehört. Isarns trockene Zunge fuhr über seine aufgesprungenen Lippen. »Junge«, sagte er geistesabwesend. »Ja, Meister, ich bin es. Ich bin zurück.« Isarn sah den schmutzigen grünen Verband um Stanachs rechte Hand. Trauer stand wie Tränen in seinen Augen. »Was ist mit deiner Hand passiert, Kleiner?«
Stanach zuckte zusammen, wußte jedoch keine Antwort. Er brauchte auch keine, denn Isarn vergaß die Frage. Als er wieder redete, sprach aus seiner Stimme feste Überzeugung: »Sturmklinge wird den Hochkönig töten!«
Stanach hielt den Atem an. Die Worte klangen wie eine Prophezeiung, wie eine Vorahnung, und Stanach spürte diese Vorahnung als kalte Angst auf der Haut. Es wird den Hochkönig töten.
Aber es gab keinen Hochkönig in Thorbardin. Seit dreihundert Jahren hatte keiner auf diesem Thron gesessen. Und seit dreihundert Jahren war kein Königsschwert mehr in Thorbardin entstanden.
»Meister«, flüsterte er, »das verstehe ich nicht.«
Das leere Starren in Isarns Augen füllte sich jetzt mit Leben. Er sah Stanach direkt an, und seine Lippen verzogen sich zu einer Art Lächeln.
»Ach, Junge, du sagst immer, daß du nicht verstehst. Aber du tust es trotzdem immer.«
Wie Gespenster hörte Stanach wohlbekannte Worte aus seiner langen Vergangenheit – aus einer Zeit, als seine Hände voller Entdeckungsfreude waren und sein Kopf mit Lernen beschäftigt.
Deine Hände haben das Wissen, Stanach, mein Junge, und dein Herz hat die Wünsche. Deshalb muß dein Kopf – der manchmal härter ist als der Stein, nach dem du benannt bist – nur noch verstehen.
Nach diesen Worten würde Isarn ein weiteres Bröckchen Wissen weitergeben, um Stanachs Hand in der Schmiede anzuleiten.
Stanach beugte sich vor. »Meister, es gibt keinen Hochkönig. Ich verstehe nicht, warum du…«
Isarns Brauen verzogen sich zu einer Miene, die Stanach gut kannte. Es war das grimmige Stirnrunzeln, das einem Lehrling oder Gesellen blühte, der seinen Erklärungen nicht zugehört hatte.
»Es gibt einen König, Junge«, flüsterte er heiser und ungeduldig. »Es gibt einen König. Für ihn habe ich das Schwert gemacht. Sturmklinge habe ich es genannt – es gibt einen König.«
Hornfell! Stanach zitterte vor Erschöpfung, und weil er plötzlich begriff, was Isarn sagen wollte. Hornfell würde Hochkönig sein.
Stanach schloß die Augen, um nachzudenken. Isarn war unbestreitbar verrückt. War das weiteres Geschwätz? Es hieß, daß Isarns Abstieg in den Wahnsinn begonnen hatte, als Sturmklinge gestohlen wurde. Stanach wußte, daß dieser lange Abstieg angefangen hatte, als sein Meister das leuchtende Herz aus Feuer in Sturmklinges Stahl gesehen hatte.
Genau, aber nicht für einen Hochkönig. Für einen Regenten. Sogar Hornfell strebte nur die Regentschaft an. Der alte Schwertschmied war verwirrt und wanderte durch die trüben Nebel von Irrsinn und Tod. Er wußte nicht mehr, was er sagte. »Meister Isarn«, sagte Stanach sanft. Isarn antwortete nicht. Stanach betrachtete ihn mit klopfendem Herzen genauer. Die Augen des alten Schmieds starrten nicht mehr weit aufgerissen in die Luft, sondern waren still und trüb. »Meister?«
»Ich habe das Schwert gemacht«, hauchte Isarn, »für einen Lehnsherrn. Realgar wird damit einen Hochkönig töten.« Seine vom Alter knorrige, von Brandnarben übersäte Hand kroch über seine Brust. Als seine Finger Stanachs Hand berührten, waren sie trocken wie altes Pergament. »Du hast das Schwert nach Hause gebracht. Finde es wieder. Finde es.«
Ein schmerzhafter Knoten erstickte wie Tränen jede Entgegnung, die Stanach hätte geben können.
Er schloß seine Finger um die Hand des alten Zwergs. »Bitte nicht, Isarn. Trag mir das nicht auf…« Seine Worte verklangen flüsternd in einem Seufzer. Isarn Hammerfels war tot.
Schlanke, zitternde Finger berührten ihn an der Schulter. Getroffen vom Tod seines Verwandten und Meisters, drehte sich Stanach blind um. Kelida ging neben ihm auf die Knie.
Im flackernden Fackellicht fiel ein schwarzer Schatten auf das Mädchen und den Leichnam. Aufblickend sah Stanach Hauk hinter Kelida stehen. Seine zuvor wolfsartigen Züge hatten sich etwas entspannt, wirkten aber immer noch gehetzt. Die Bilder der Folter spiegelten sich darin.
Der Zwerg versuchte aufzustehen, sank jedoch wieder auf die Knie zurück. Er war anscheinend sogar dafür zu müde. Wie sollte er das schreckliche Gewicht von Sturmklinge tragen können?
Kelida griff nach seiner Hand. »Laß mich dir helfen.«
Stanach wollte ihre Hilfe annehmen. Bevor sie seine Hand nehmen konnte, ging Hauks dazwischen.
Es war eine große Hand mit groben Fingern, die von Schwert- und Dolchschnitten vernarbt waren. Als er Stanach auf die Beine half, ließ er nicht sofort wieder los, wie es der Zwerg erwartet hatte. Statt dessen schlossen sich seine Hände zum langen Druck der Kameradschaft unter Kriegern.
Stanach sagte nichts. Es gab nichts zu sagen.
»Ich habe gehört, was der alte Zwerg zu dir gesagt hat«, erklärte Hauk. »Ich weiß nicht, ob dieses Schwert, diese Sturmklinge, mir gehört. Ich glaube nicht… Aber ich bin ein Teil der Geschichte. Realgar…«, Hauks Stimme senkte sich, »hat mir so viel angetan. Er hat mir Tyorls Tod gezeigt und mir eingeredet, ich hätte ihn getötet. Ich weiß… ich weiß, ihr sagt, daß er lebt, aber die Erinnerung an den Mord steckt immer noch tief in mir drin. Er hat mich sterben lassen und mich zurückgeholt.« Seine Augen waren jetzt auf Stanach gerichtet, weil er nicht wollte, daß Kelida die nackte Leere darin sah. »Und er hat mich wieder sterben lassen. Stanach, Realgar schuldet mir etwas.«
Stanach blickte auf seine Hand mit den gebrochenen Fingern. Er schloß die Augen und sah Krähen am kalten, blauen Himmel, hörte den Wind um einen Grabhügel in den Hügeln pfeifen. Isarns letzte Worte waren verrückt gewesen, geisterhafte Träume aus Mythen und Legenden. Die Wahrheit war, daß Freunde und Verwandte wegen Realgars giftigem Streben nach Macht gestorben waren. Und es würden nicht die letzten gewesen sein, die sterben mußten.
Stanach sah mit kalter Angst, wie Hauk Kelida seinen Dolch gab. »Du auch? Nein, Kelida.«
»Doch.« Sie sah sich zitternd in der kalten Höhle um. »Ich werde nicht hierbleiben. Ich gehe dahin, wo Hauk hingeht. Wo auch du hingehst.« Sie fuhr mit dem Daumen über den Messergriff. »Schließlich hast du darauf bestanden, daß ich lerne, wie man damit umgeht. Ich glaube, unser Freund Lavim war ein guter Lehrmeister. Ich weiß nicht, ob ich damit töten kann, Stanach. Aber ich glaube, ich kann mich verteidigen. Ich komme mit.«
Читать дальше