Tyorl schüttelte den Kopf. Er war müde vom Laufen, müde vom Grübeln. Seine Gefährten waren inzwischen beide tot. Sie waren ein Teil von Sturmklinges Blutpreis.
Finn hustete in der dicker werdenden Luft, so daß Tyorl aufblickte. »Wir haben keinen Führer, Finn. Wir müssen das Beste daraus machen und uns nur zum Ziel setzen, dem Guyll Fyr zu entkommen.«
»Dieses Ziel werden nicht alle von uns erreichen.« Finn zeigte auf Lavim.
Der Kender lehnte am Stamm einer Kiefer und ließ den Kopf hängen, während sein Japsen seinen ganzen kleinen Körper erschütterte und in seiner Brust rasselte wie der Wind im Schilf. Die letzten Meile hatte er gehinkt und etwas über Steine im Schuh gegrummelt.
Das Loch in einem der alten Stiefel des Kenders war groß genug, um diese Ausrede zu untermauern. Aber es war trotzdem eine Ausrede, die Tyorl ihm nicht glaubte. Im Moment beugte sich Lavim gerade zu seinem rechten Knie, weil er sich unbeobachtet fühlte, und rieb es mit langsamen, sorgfältigen Bewegungen. Als er aus dem Sumpf gekommen war, hatte er es sich verrenkt.
Tyorl blickte zu Finn. Der Anführer der Waldläufer schüttelte wieder den Kopf, wobei Mitleid in seinen rauchblauen Augen aufschimmerte. Obwohl Finn sich dafür ausgesprochen hatte, dem Kender die Kehle durchzuschneiden und ihn im Sumpf liegen zu lassen, war sein Zorn wie immer von kurzer Dauer gewesen. Er war es, der Lavim fluchend und spritzend aus den letzten, tiefsten Wasserlöchern gezogen hatte.
Wir sind die letzten von den vieren, die aufgebrochen sind. Lavim und ich, dachte der Elf. Und keiner von uns wußte viel mehr als die Namen der anderen. Plötzlich erkannte er, daß ihm diese Kameraden in den paar Tagen ans Herz gewachsen waren. Der Tod von zweien – auch der des finsteren Stanachs! – würde lange Jahre dunkel in ihm brüten.
Tyorl stieß sich vom Baum ab.
»Wir verschwenden unsere Zeit. Stanach ist nicht bei uns. Ich weiß, welche Richtung er einschlagen wollte. Im Süden aus dem Sumpf, dann nach Osten. Ich weiß nicht viel über Thorbardin, aber ich weiß, daß wir noch nördlich davon sein müssen. Der Wind treibt das Feuer nach Nordost. Es wird ein harter Aufstieg im Süden nach Thorbardin. Wir sollten besser aufbrechen. Was Lavim angeht, Finn: Er wird es so weit schaffen wie ich, denn wenn er nicht mehr kann, werde ich ihn tragen.«
Ohne weitere Worte ging Tyorl zu Lavim. Dort ließ er sich auf ein Knie herunter und legte dem alten Kender die Hand auf die Schulter. Lavim sah sich um und setzte sein jederzeit verfügbares Grinsen auf. Er brauchte jedoch einen Augenblick, um dieses Grinsen an die rechte Stelle zu schieben.
»Wie geht es dir, Kenderchen? Bist du bereit für die nächste Etappe?«
»Ich bin bereit, Tyorl, wenn ihr es seid. Und ich glaube – na ja, ich meine, Pfeifer glaubt – «
»Was glaubt Pfeifer?« fragte Tyorl argwöhnisch.
»Er glaubt, daß er uns von hier aus nach Thorbardin führen kann. Er erkennt die Landschaft irgendwie und meint, daß es richtig ist, wenn ihr nach Südosten wollt. Er will wissen, ob ihr euch eine Zeitlang von ihm führen lassen würdet.«
Ein Geist als Führer? Tyorl seufzte erschöpft. Warum nicht. Wenn man aus einem brennenden Haus flieht, gibt man alles auf, um lebend davonzukommen. Er drehte sich zum Westhimmel um, der purpurrot leuchtete und von dicken, schwarzen Rauchschwaden verhangen war.
»Nun, im Moment haben wir überhaupt keinen Führer. Sag Pfeifer, daß ich seine Hilfe dankbar annehme.« Tyorl lächelte. »Aber laß es mich Finn erzählen, ja?«
Lavim nickte grinsend. »Er mag Pfeifer nicht besonders, hm?«
»Sagen wir mal, er mag die Vorstellung von Pfeifer nicht besonders.«
Tyorl fuhr mit der flachen Hand abwesend über das weiche Kirschholz der Flöte an seinem Gürtel. Er hatte sie Lavim im Sumpf weggenommen und mit dem Lederriemen an seinem Gürtel festgemacht. Seitdem hatte er sie ständig im Blick.
Tyorl lächelte.
Er würde es Finn irgendwie beibringen. Es wurde Zeit, alles aufzugeben, selbst den klaren Verstand, den er sich einst zugute gehalten hatte.
Hauk hatte keine Ahnung, wo er war, und er war dieses Gefühl bald leid. Es gab keine Möglichkeit, unter dem Berg die Richtung zu bestimmen, weil er keine Fixpunkte hatte und nur dem Licht nachlaufen konnte, das von Isarns flackernder Fackel ausging. Er folgte dieser Fackel durch die dunklen, tiefen Gänge, wie er in fremden Ländern dem Polarstern folgen würde.
Isarn hatte aus seinen Vorräten in der geheimen Höhle einen Dolch und ein Schwert herausgeholt. Die hatte er Hauk mit einem stolzen Funkeln in seinen verrückten, alten Augen überreicht.
»Die habe ich gemacht«, sagte er nur, während er zusah, wie Hauk die gutgearbeiteten Waffen ausprobierte. »Nimm sie. Ich nehme die Fackel.«
Mit dem Dolch im Gürtel und dem Schwert in der Hand fühlte sich Hauk besser als seit Tagen. Mit den Waffen kam er sich richtig vollständig vor, fast schon stark.
Die Tunnel, durch die Isarn ihn führte, schienen ein gewundenes, verschlungenes Labyrinth zu sein, das keinem vernünftigen System folgte. Manche waren breit und hatten Fackelhalterungen an den hohen, glatten Wänden. Andere waren eng und so niedrig, daß Hauk nur gebückt hindurchlaufen konnte. Der Rauch von Isarns Fackel zog dann nach hinten und drängte sich in Hauks Lungen, was ihm fast die Luft nahm. Am Ende solcher Gänge war sein Rücken stets steif, und die Schultern schmerzten. Er ergriff Isarn am Arm und hielt ihn fest.
»Wie weit noch? Und wo sind wir?«
Der alte Schwertschmied entwand sich Hauk. »Tiefe Höhlen. Nicht mehr weit. Nur ein paar Tunnel.«
»So? Wenn sie so niedrig sind wie der letzte, werde ich niemandem helfen können.«
Isarn erwiderte nichts, sondern zuckte nur mit den Schultern, als ob er darauf verweisen wollte, daß die Tunnel schließlich nicht für große Ausländer gebaut worden waren. Sie waren auch nicht für den normalen Verkehr in Thorbardin gebaut. An vielen Stellen fand Isarn sie selbst ziemlich eng. Als Hauk sah, wie sich Isarn am Ende eines weiteren Gangs tief bückte, stöhnte er innerlich und ließ sich auf alle viere nieder.
Ich werde noch auf dem Bauch rutschen, dachte er, bevor ich je dahin komme, wo der verrückte, alte Knabe mich hinschleppt!
In diesem Tunnel war die Decke so niedrig, daß es Hauk so vorkam, als würde er vom Gewicht des ganzen Berges heruntergedrückt. Die Wände waren so eng, daß der rauhe Stein an seinen Schultern und Armen schabte. Der Rauch von Isarns Fackel zog über dessen Schulter nach hinten, um dann plötzlich nach vorne zu schweben, als er von einer kalten Querströmung gepackt wurde.
Da erkannte Hauk, daß dies hier gar kein Gang war, sondern eine Art Verbindungsstück zwischen zwei Tunneln. Auf den Ellbogen robbte er durch den Tunnel und richtete sich dann vorsichtig wieder auf.
Isarn, der bisher ruhig und fast gelassen gewesen war, trat von einem Fuß auf den anderen. Sein Atem ging schneller, und seine Hände zitterten so sehr, daß das Fackellicht die Tunnelwände zum Tanzen brachte. »Was ist los?« flüsterte Hauk. »Hier. Sie sind hier. Der Junge und das Mädchen.« Hauks Herz machte einen Satz und klopfte ihm bis zum Hals. »Wo?«
Isarn antwortete nicht, sondern drückte Hauk die Fackel in die Hand und schlüpfte in die finsteren Schatten vor ihnen. Hauk folgte ihm mit trockenem Mund, während ihm das Blut in den Ohren sang.
Sie war hier! Das Mädchen mit dem Feuerhaar, dessen Namen er nie erfahren hatte. Nur die Erinnerung an sie und ihre leuchtenden grünen Augen hatte ihn während all der Folterqualen, die Realgar ihm zugefügt hatte, nicht wahnsinnig werden lassen. Als er nicht mehr wußte, ob er tot oder lebendig war, als er Tyorls Tod gesehen und gespürt hatte und wußte, daß er ihn getötet hatte und es doch wieder nicht gewesen war, da hatten die Augen des Mädchens wie Smaragde in seinem Herzen geleuchtet. Sie war hier.
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