Hauk folgte langsam dem Klang von Isarns aufgeregtem Atmen und bog um eine Ecke. Orangefarbenes Fackellicht fiel an die jenseitige Wand und zeigte, wo der Zwerg vor einer unregelmäßigen Felsspalte kniete. Sie war gerade breit genug für Hauk und reichte vom Boden bis weit außer Sichtweite des Waldläufers. »Dahinter?«
Isarn nickte. »Genau. Der Junge und – «
Tief und bedrohlich füllte ein Grollen den Gang, das zu seinem schrillen Schrei anstieg, in dem Hauk irgendwie eine dunkle, wilde Freude wahrnahm. Der Felsen schien bei diesem Schrei zu vibrieren und Echos dorthin zurückzuwerfen, wo dieser markerschütternde Schrei ausgestoßen worden war.
Isarn heulte auf, ein dünner, hoher Entsetzensschrei. Das schreckliche Brüllen traf Hauk wie ein Schlag und warf ihn auf die Knie. Mit beiden Händen hielt er die Fackel fest, wobei er sein Schwert losließ. Er hörte nichts davon, wie der Stahl klirrend zu Boden fiel. Das Brüllen steigerte sich, als ob das Wesen, das den Schrei ausstieß, aufstieg. Schatten vom Fackellicht zuckten wie verrückt über Wände und Boden. Schwaches, orangerotes Licht flackerte durch den Gang und zeigte ihm abwechselnd die rauhen Wände und die Nischen, in denen die Finsternis zusammenfloß.
Von Isarn keine Spur.
Hauk hob die Fackel mit der linken Hand in die Höhe und ergriff mit der rechten Hand sein Schwert. »Isarn!« rief er leise. »Isarn!«
In dem Felsengang bewegten sich nur das zitternde Licht und die irren, tanzenden Schatten, die die Fackel warf. Angst erfaßte Hauk und jagte durch sein Herz. Isarn war nirgends zu sehen. Hauk hielt den Atem an, um zu lauschen. Er hörte nur das Zischen und Knistern der Fackel. Wo war der Zwerg?
Dann dachte er nicht mehr an Isarn. Leise wie das Heulen des Windes drang ein ersticktes Stöhnen durch den Spalt in der Wand. Noch während er darin eine Frauenstimme erkannte, erstarb das Stöhnen.
Mit klopfendem Herzen und ohne nachzudenken, schoß Hauk durch den Spalt in der Wand. Isarn lag klein und zusammengesunken links vom Zugang. Hauk stellte ungerührt fest, daß der Zwerg sich nicht bewegte. Die Höhle war kalt und von trockenem, moschusartigem Reptiliengestank erfüllt. Hinten in der Ecke wurde ein Traum Wirklichkeit. Da kauerte ein Mädchen mit dicken, kupferroten Haaren.
Sie hockte auf Knien und streckte die Fäuste hoch. Die grünen Augen waren weit aufgerissen, das halb im Schatten liegende Gesicht war blaß und weiß. Ein Zwerg mit schwarzem Bart und dicken Armen stand vor ihr. Mit seiner verbundenen Hand griff er nach ihr.
Hauk stieß ein Bärengebrüll aus und rannte durch die Höhle. Dabei erkannte er, daß der Zwerg zu nahe bei dem Mädchen stand, als daß er mit dem Schwert zustechen könnte. Er wendete die Waffe und hob den Griff hoch in die Luft.
Sie sah und erkannte ihn in dem Moment, als er dem Zwerg den Schwertgriff zwischen die Schultern donnerte. »Hauk!« schrie sie. »Nicht!«
Ihr Schrei übertönte das Keuchen des Zwergs und das Aufschlagen seines Körpers auf den Felsboden. Und er hallte in dem Entsetzen und dem Zorn in ihren grünen Augen wider, als sie sich über den Zwerg warf, als wollte sie ihn vor dem glitzernden Stahl des Schwerts beschützen.
Mit zitternder Hand und wild klopfendem Herzen senkte Hauk sein Schwert. Die Fackel flackerte auf und erlosch. Dunkelheit verschluckte die Höhle. Die einzigen Geräusche, die Hauk vernahm, waren das Raunen des Windes an einem fernen Ort über ihm und der stoßweise Atem des Mädchens.
Er griff nach ihrer Schulter und berührte sie sanft. Als sie zurückzuckte, traf ihn ihr Angstschrei mitten ins Herz.
Nach einer Weile entsetzlicher Finsternis streichelte eine Hand mit zitternden Fingern die Seite von Stanachs Kopf.
»Oh, bitte«, flüsterte eine vertraute Stimme. »Oh, bitte, Stanach. Bitte, mein Freund, sei am Leben.«
Es war eine kindliche Bitte, die ohne jede Rücksicht auf Logik von Herzen kam. Typisch Kelida.
Langsam fand Stanach das Bewußtsein wieder. Er erinnerte sich an kaum etwas außer dem plötzlichen Brüllen des Drachen. Kelida hatte entsetzt aufgeschrien. Sein eigenes Herz hatte ausgesetzt: Er hatte die reißenden Zähne von Nachtschwarz erwartet. Ganz sicher hatte er nicht erwartet, daß ihm ein Schwertknauf in den Rücken geschlagen würde.
»Lyt Chwaer«, seufzte er, ohne die Augen öffnen zu können, »es hat keinen Sinn, die Toten zu bitten, daß sie leben.«
Sie hielt überrascht den Atem an und nahm seine linke Hand fest in die ihre.
Da machte Stanach die Augen auf, obwohl das abrupte Eindringen von Licht ihm Kopfschmerzen bereitete. Flackerndes Licht von der erneut entzündeten Fackel warf dunkle Schatten auf Kelidas Gesicht. Ihre grünen Augen schienen das Flackern der Flamme zu spiegeln.
»Stanach?«
»Hmm«, seufzte er. »Was hat mich erwischt, Kelida?«
Hinter Kelida trat ein junger Mann mit schwarzen Haaren und schwarzem Bart in seinen Gesichtskreis. Die braune Lederkleidung hing lose um einen Körper, der normalerweise muskulös und füllig sein mußte.
Füllig, dachte Stanach, wenn er regelmäßig ißt. Der da hat in letzter Zeit weder regelmäßig noch oft gegessen.
»Ich habe dich erwischt, Zwerg.«
Aus der kalten Stimme sprach keinerlei Reue. Ein raubtierhaftes Leuchten drang aus den blauen Augen des jungen Mannes – Augen eines Wolfes, der zu lange gefangengehalten wurde, Augen eines Wolfes, der von seinem Rudel getrennt war und Angst hatte.
Stanach richtete sich zum Sitzen auf. Der junge Mann beobachtete jede seiner Bewegungen. Stanach erschauerte und dachte einen langen Augenblick, er würde einem Geist gegenüberstehen. Die Kleider eines Waldläufers und das Aussehen eines Raubtiers. Plötzlich wurde ihm bewußt, wer der junge Mann war. Aber wie konnte er noch leben? Wie konnte er die Folter überlebt haben, die Realgar ihm angetan haben mußte? Es mußten wirklich schreckliche Qualen gewesen sein. Der Mensch, den Stanach hinter Hauks dunklen Augen erblickte, war auch innerlich ausgemergelt und schwach.
Rasch blickte der Zwerg zu Kelida. Sie schien verwirrt und mißtrauisch, als hätte sie zwar etwas Verlorenes wiedergefunden, könnte sich nun aus irgendeinem Grund aber nicht dazu entscheiden, sich zu freuen, weil sie Angst davor hatte.
Stanach stand auf, wobei ihn jeder Muskel schmerzte. Hauk sah ihn mit erhobenem Kopf angespannt an. Er verfolgte immer noch jede Bewegung mit seinen mörderisch kalten Augen. Der Zwerg zwang sich ein hoffentlich trockenes, anerkennendes Lächeln auf.
»Du bist Kelidas Hauk. Du hast einen guten Schlag.« Hauks zusammengebissene Kiefer entspannten sich, und Stanach wurde klar, daß der Waldläufer nicht einmal ihren Namen gewußt hatte.
»Richtig«, sagte er und rieb sich dabei vorsichtig den Nacken.
»Kelida.«
Kelida schluckte trocken und kam auf die Beine. Fahrig strich sie sich das zerzauste Haar aus der Stirn und glättete ihren zerknitterten, fleckigen Mantel. »Du – erinnerst dich an mich?«
Seine Lippen bewegten sich, obwohl er keinen Ton sagte. Er nickte.
»Steckst du… dann bitte dein Schwert weg?«
Er versteifte sich und hielt die Waffe fester.
»Bitte.« Mit ausgestreckter Hand kam sie einen kleinen Schritt auf ihn zu. »Wir haben dich gesucht.«
Hauk warf einen scharfen, argwöhnischen Blick auf Stanach. Dann senkte er das Schwert. »Und Tyorl?«
Kelida legte ihm die Hand auf den Arm und drückte das Schwert herunter. »Geht es hoffentlich gut.« Sie schaute Stanach an.
»Mir geht es gut.« Er lächelte mit einem ironischen Zug um den Mund. »Erzähl ihm lieber von seinem Schwert, Kelida. Und wenn er uns gefunden hat, weiß er vielleicht einen Weg nach draußen. Daß dieser Drache so plötzlich aufgebrochen ist, bedeutet bestimmt nichts Gutes.«
Stanach sah sich in der Höhle um. In den schwarzen Schatten nahe des Eingangs zur Höhle lag eine zusammengesunkene Gestalt. Der Zwerg holte tief Luft.
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