Stanach war letzte Nacht bei Sonnenuntergang mit einem kalten Wind im Rücken nach Langenberg gekommen. Als erstes hatte er sich nach einem Schlafplatz umgesehen, dann nach einem Essen. Beides hatte er im ›Tenny’s‹ gefunden.
Essen und ein Zimmer waren nicht alles, was er gefunden hatte. Sturmklinge war tatsächlich in Langenberg. Zumindest’ war es das bis gestern nacht gewesen.
Stanach legte seine Finger an seinen schwarzen Bart und zupfte daran. Als er gestern abend in die Schenke gekommen war, wurde überall von der riskanten Wette eines Waldläufers erzählt: sein Schwert gegen die Geldbeutel von drei Freunden.
Ein hinreißendes Schwert! Mit goldenem Heft und versilbert… fünf herrliche Saphire im Heft…
Riskantes Spiel, dachte Stanach. Ja, riskantes Spiel. Obwohl er den Waldläufer und sein Schwert gesucht und sogar diskret Erkundigungen eingeholt hatte, hatte er letzte Nacht keine Spur von ihm gefunden. Auch heute gab es keinen Hinweis auf Sturmklinge. Das Schwert und der Waldläufer, der beim Messerwerfen darum gewettet hatte, waren wie vom Erdboden verschluckt.
Er war mit einem Elf zusammen gewesen, hatte ein Mann gestern abend erzählt. Stanach nahm einen tiefen Schluck Bier und sah zur Theke. Der einzige Elf, den er gestern und heute hier gesehen hatte, war der große, schlanke Kerl, der jetzt mit der rothaarigen Kellnerin redete.
Stanach betrachtete ihn genauer. Er trug lederne Jagdkleidung und hohe Stiefel. An seiner Hüfte hing ein Dolch, über dem Rücken ein Langbogen und ein voller Köcher. Er trug seine Waffen mit selbstverständlicher Leichtigkeit. Stanach fand, er wirkte wie jemand, der mehr Zeit in den Wäldern als in Tavernen verbracht hatte. Wie ein Jäger. Oder ein Waldläufer.
Der Wirt rief nach dem Schankmädchen. Sein Kommando gellte durch das Stimmengewirr, das Stühlerücken und das Zischen und Knacken des Kaminfeuers. Der Ruf blieb dem Mann in der Kehle stecken. Schlagartig wurde es in der Taverne ruhig. Die Tür war aufgegangen, und der trockene, moderige Geruch von Reptilien erfüllte die Luft.
»Givrak«, flüsterte einer und erstickte fast an dem Namen.
Spontan wollte Stanach die Augen zumachen, er wollte nicht wahrhaben, was sich da durch die schweigende Menge schob. Als Kind hatte Stanach Alpträume über Monster gehabt, die aussahen wie Givrak. Doch er schloß die Augen nicht, sondern sah hin. Instinktiv wußte er, daß man diesen Givrak ganz genau im Auge behalten mußte, und wenn auch nur, damit man wußte, in welche Richtung man im Zweifelsfall rennen mußte.
Wie die Wesen aus Stanachs schlimmsten Träumen war Givrak so hochgewachsen wie ein großer Mensch, hatte breite Schultern und den Kopf eines Reptils, flach und mit einem knochigen Kamm. Auf seinem Rücken waren breite Flügel mit Krallen zusammengefaltet. Im Gegensatz zu den Figuren aus seinen Alpträumen trug Givrak ein Kettenhemd. Von seinem Platz an einem Ecktisch nahe der Tür konnte Stanach nicht feststellen, wo die Rüstung aufhörte und die schuppige Haut des Drakoniers anfing. Seine muskelbepackten Beine schienen nicht zum Laufen bestimmt, auch wenn sich Givrak auf seinem Weg zur Theke ganz gut auf ihnen hielt. Schlimmer aber waren seine schwarzen Augen.
Weder Gnade noch Mitleid hatten sich je in diesen Augen geregt.
Der Drakonier hob die Hand. Das Licht des Kaminfeuers und der kleinen Laternen glitzerte und tanzte über das Kettenhemd und die Haut.
Der Drakonier bewegte sich langsam wie eine Schlange, die sich entrollt. Stanach war noch nicht lange in der Stadt, aber nach zwei Nächten und einem Tag wußte er bereits, daß ein schlechtgelaunter Drakonier in Langenberg nicht oft abzog, ohne Schaden anzurichten.
Im ganzen Raum regte sich niemand. Der Lappen des Wirts hing wie eine schlaffe, schmutzige weiße Fahne in seiner Hand. Überall saßen und standen die Männer absolut still herum. Der Ort stank nach Angst. Stanachs Schwert lag quer auf dem Tisch. Er schob seine Hand näher an das Heft.
Das Schankmädchen, dessen Gesicht so totenbleich war, daß die Sommersprossen auf ihren Wangen wie Fieberflecken hervortraten, holte erschreckt Luft. Bei dem Geräusch drehte sich Givrak um.
Der viehische Drakonier roch die Angst des Mädchens. Seine schmale, gespaltene Zunge zuckte um seinen lippenlosen Kiefer. Stanachs Finger schlossen sich um den Schwertgriff.
Mit langsamen, geschickten Bewegungen löste sich der Elf von der Theke. Sein ungespannter Bogen würde ihm nichts nützen, aber seine rechte Hand hing nah an seinem Dolch. Ganz kurz bemerkte Stanach den kalten, blauen Blick, mit dem der Elf ihn rasch und befriedigt einschätzte. Der Zwerg sah zu dem Mädchen. Ihre Augen hatten die Farbe von Smaragden und waren vor Furcht weit aufgerissen.
In diesem Moment schlenderte der Kender Lavim Sprungzeh in die Taverne. Er trug eine enge, hellgelbe Hose, weiche, braune Stiefel und einen schwarzen, unförmigen Mantel, der ihm fast bis zu den Knien reichte. Der alte Kender hatte sein langes, weißes Haar zu einem dicken Zopf geflochten. Ein zartes Runzelmuster ließ sein Gesicht wie das eines uralten, stupsnäsigen Kindes erscheinen. Er sah den Drakonier sofort, griff aber nicht nach dem Hupakstock auf seinem Rücken. Statt dessen marschierte er gezielt auf ihn zu, wischte sich die Hände an seiner gelben Hose ab und spähte zu Givrak hoch.
»Na also«, seufzte er. »Weißt du, daß ich die ganze Stadt nach dir abgesucht habe?«
Furchtlos, diese Kender, dachte Stanach, als er sah, wie der Atem des Mannes nur ein ganz klein wenig stockte, als Givrak sich zu ihm umdrehte. Aber, vielleicht auch nicht.
Der Drakonier runzelte die Stirn, was so abartig und furchtbar erschien, wie Stanach es noch nie gesehen hatte. »Nach mir, du kleiner Dieb?«
Der Kender zuckte bei dieser groben Beleidigung mit keiner Wimper, sondern grinste nur. Seine Stimme war weich und erstaunlich tief für so einen Winzling. »Ja, nach dir. Da ist jemand, der auf dich wartet, und er hat mich losgeschickt, um dich zu suchen.«
»Wer?«
Der Kender zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wer er ist. Er hatte eine rote Rüstung an und trug einen großen Helm. Du weißt schon, der Helm sieht genauso aus wie ein Drachenkopf. Er hatte Hörner und ein Visier, das wie Fangzähne aussieht. Na ja, jedenfalls finde ich, daß er wie ein Drache aussah – der Helm, natürlich. Ich habe noch nie einen echten Drachen gesehen außer dem roten, der jeden Tag hier herumfliegt. Aber der fliegt immer so hoch, daß ich sein Gesicht gar nicht richtig erkennen kann und – «
Givrak knurrte. Der Kender seufzte, anscheinend über die Ungeduld und die schlechten Manieren des Drakoniers.
»Jedenfalls hat er irgendwas über Truppenbewegungen oder den Drachenfürsten oder so was gesagt.«
Givrak zischte. Genau wie jeder andere im Raum erkannte er in der Beschreibung Karvad, den Hauptmann, der die Besatzungstruppen in Langenberg kommandierte. Und wenn er Karvads Ruf noch mißachten konnte, den des Drachenfürsten jedenfalls nicht. Keiner wußte heutzutage, wo Verminaard, dem der Verlust von achthundert gefangenen Sklaven noch weh tat, seine Wut als nächstes auslassen würde. Der Drakonier fauchte wieder und drehte sich dann um, wobei er einen Tisch aus dem Weg trat. Krüge und Kelche fielen auf den Boden. Er schlug die Tür so laut zu, daß die Wände wackelten.
Einen Augenblick war die Taverne noch still. Dann begann das gedämpfte Gemurmel wieder anzuschwellen und verschmolz rasch zu einer Woge von ängstlichen und ärgerlichen Stimmen.
Das Schankmädchen kam um die Theke gelaufen, um den Schaden aufzuräumen. Stanach hob einen Kelch und zwei Krüge auf und reichte sie ihr. »Das war knapp, Mädel.«
»O ja«, sagte das Mädchen mit immer noch weißem Gesicht. »Ich glaube, ich habe gerade mein Glück für das ganze Jahr aufgebraucht.«
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