Realgar fauchte. Dieser andere Waldläufer, der Elf, mußte es haben!
Oder – wer sonst? Kyan Rotaxt war tot. Hornfells verhätschelter Zauberer und dieser verrückte Schüler von Isarn waren immer noch in der Nähe der Stadt, aber sie wußten noch nichts von Hauk und Sturmklinge. Sie hatten genug damit zu tun, Brek und seinen Wachen aus dem Weg zu gehen. Der Mensch mußte festgenommen und der Elf beschattet werden.
»Bringt mir den Waldläufer«, hatte er Agus mitgeteilt, während er Gneiss anlächelte. »Innerhalb einer Stunde werde ich wissen, wer das Schwert hat.«
Im selben Moment hatte der Graue Herold seine Hände auf den Kopf des jungen Mannes gelegt und die Worte eines Transportzaubers gesprochen. Jetzt warteten Ruel und Agus mit dem Waldläufer Hauk in den Tiefen von Thorbardin.
Der Tunnel wurde breiter. Seine feuchten Wände wichen zurück und schwangen sich zu einer plötzlich hohen Decke empor. Realgar fletschte die Zähne zu einem tödlichen Lächeln, als er eine weite, annähernd runde Höhle betrat. Der Ort war genauso dunkel, wie der Tunnel gewesen war, seine Wände ebenso rauh und naß. Realgar baute sich vor dem Körper des bewußtlosen Waldläufers auf.
Hauk regte sich. Der Theiwar lächelte und vertrieb die beiden Wachen mit einer nachlässigen Handbewegung.
In einem Gäßchen hinter der einst besten Geschäftsstraße von Langenberg kniff ein alter Kender im feuchten Nachtwind die Augen zusammen und näherte sich einer verschlossenen Tür. Der Geruch nach verbranntem Holz erfüllte die Gasse, und der Kender nieste einmal und dann noch einmal. Dieser Laden war einer der ganz wenigen unversehrten in dieser Straße. Der Drache hatte ihn – absichtlich oder unabsichtlich – verschont, und nicht einmal die plündernden Soldaten hatten ihn besonders beschädigt. Der Kender hatte Schwierigkeiten mit dem Schloß.
Lavim Sprungzeh war nicht bereit, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß er zu alt wurde, um dieses simple Schloß zu überlisten. Er war sechzig, und das war schließlich noch kein Alter. Warum auch. Lavim wußte wie jeder Kender, daß Onkel Fallenspringer erst mit weit über siebzig langsam eingeräumt hatte, daß er nicht mehr der Jüngste war.
Tatsächlich hatte Onkel Fallenspringer angeblich das enorme Alter von siebenundneunzig erreicht, bis ihn schließlich das schreckliche Phantom aus dem Sumpf von Rigar erwischte. Was Lavim anging, so war er sich nicht sicher, ob wirklich irgendein schreckliches Phantom Onkel Fallenspringer ›erwischt‹ hatte. Diese zweifelhafte Geschichte stammte von der Tante der Cousine seines Vaters, und man wußte in der Familie nur zu gut, daß Tante Evalia nie ganz bei der Wahrheit blieb. Lavim hatte immer gehört – vom Neffen der Schwester seiner Mutter, einer viel verläßlicheren Quelle, der über einen Cousin zweiten Grades direkt mit Onkel Fallenspringer verwandt war –, daß es Onkel Fallenspringer war, der das schreckliche Phantom erwischt hatte. Das klang jedenfalls nach einer viel besseren Geschichte.
Der etwas gebeugte und sehr weißhaarige Kender ließ seinen Blick noch einmal über das Gäßchen schweifen, lauschte sorgfältig auf Schritte, hörte keine und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Hintertür des Ladens zu.
Seine Augen waren nicht schwach, nur dieser ekelhafte Ruß und der Rauch, der jetzt in der Luft von Langenberg hing, machten ihm das Sehen schwer. Wenn seine Hände zitterten, dann war Lavim sich sicher, daß sie es nicht aufgrund seines Alters, sondern vor Hunger taten. Da der Ort, in den er eindringen wollte, ein Bäckerladen war, hielt Lavim es für wahrscheinlich, daß es dort etwas Eßbares gäbe, das niemanden mehr interessierte. Danach würde er das Schloß wieder zuschließen, so daß es noch besser absperrte als vorher.
Er legte den Kopf schief, warf seinen langen, weißen Zopf über die Schulter und ging wieder an die Arbeit. Jeder der dünnen Falten seines runzligen, braunen Gesichts vertiefte sich noch, während er sich konzentrierte. Er lehnte sich leicht gegen die Tür, nicht damit sein langes, spitzes Ohr das Klicken des Schlosses besser hörte, sondern damit er das notwendige Gleichgewicht fand.
Es heißt, daß Augenhöhe für einen Kender aus dem gleichen Grund Türschloßhöhe ist, aus dem ein Backenhörnchen eine Backentasche hat. Ein Drehen des mittleren Bolzens des Schlosses erbrachte das befriedigende ›Klick!‹ einer fallenden Halterung. Ein zweites Drehen, dann ein drittes, und das Schloß verschloß nichts mehr. Offensichtlich sollte dieses Schloß niemanden aussperren, dachte Lavim, als er leise von hinten in den Bäckerladen trat. Für ihn war das eine Einladung.
Auf einem Tisch lag ein kleiner, brauner Brotlaib. Lavim steckte ihn ein und überlegte, wie sich der Bäcker freuen würde, daß jemand seinen Laden vor den Verwüstungen der Mäuse gerettet hatte, die bestimmt bald scharenweise angerückt wären, wenn sie erst einmal herausgefunden hatten, daß hier Futter herumlag. Indem er drei kleine Honigkuchen aus einem nahen Regal entfernte, rettete Lavim den Bäcker vor den Ratten. Er verteidigte den bemitleidenswerten Ladenbesitzer vor Ameisen, als er einen kleinen Beutel mit Kuchenstückchen füllte, und betrachtete seine Arbeit für diese Nacht als abgeschlossen, nachdem er vier kleine Brötchen in die Tasche gesteckt hatte, was dem armen Bäcker eine Invasion von Kakerlaken ersparte.
Als er zufrieden feststellte, daß der Bäcker am anderen Morgen als glücklicher Mann in seinen Laden zurückkehren konnte, schlüpfte Lavim Sprungzeh wieder zurück auf die Gasse, verschloß die Tür und marschierte in die Taverne.
Er fragte sich, ob es in der Taverne wohl immer noch Zwergenschnaps gab. Die gegenwärtige Besatzung – Heimsuchung, hätte sein Vater gesagt – machte diese Möglichkeit hochgradig unwahrscheinlich. Heutzutage gelangte nur wenig Nachschub bis nach Langenberg, und das bißchen wurde von Verminaards Armee beansprucht und vertilgt. Lavim war allerdings ein zuversichtlicher Mann. Sein Vater, der über einen endlosen Schatz an Kendersprichwörtern verfügt und das meiste davon an seinen Sohn weitergegeben hatte, hätte gesagt: »Ein leerer Beutel wird niemals voll, wenn du ihn nicht öffnest.«
Während er einen großen Bissen Honigkuchen kaute, machte sich Lavim, gestärkt vom Optimismus seines Vaters, in die Taverne auf.
Die ganze Arbeit und die guten Taten hatten ihn durstig gemacht, und es würde noch ein paar Stunden dauern, bis der Nachtwächter die Sperrstunde ausrief.
Der Lärm und die Hitze in der Taverne machten Stanach zu schaffen. Der Raum stank nach nasser Wolle und Leder, nach saurem Wein und schalem Bier, das vor langer Zeit verschüttet worden war. Aber das war nicht schlimmer als die Gerüche in manchen Tavernen, die er und Kyan in Thorbardin häufig aufgesucht hatten. Seine bedrückte Stimmung rührte eher daher, ein Fremder unter Fremden zu sein. Im ›Tenny’s‹ waren mehr Menschen, als Stanach je gesehen hatte. Nur ein paar von ihnen, kleine Grüppchen hier und da, schienen sich zu kennen. Andere standen Schulter an Schulter neben ihren Saufkumpanen, doch jeder schien für sich allein zu sein.
Stanach fragte sich, ob es in diesem Gedrängel wohl genug Luft zum Atmen für alle gab.
Wir brauchen mehr Luft in unseren Lungen als du, hätte Pfeifer gesagt. Diese Bemerkung, dachte Stanach, hätte der Zauberer mit seinem schiefen Grinsen begleitet. Stanach wußte nicht, wo Pfeifer war. Er wußte nicht einmal, ob er noch lebte.
Zornig verschmierte er einen Ring aus Bier auf dem zerkerbten Tisch. Pfeifer lebte. Schließlich war er ein Magier, und zwar ein schlauer. Auch wenn er wie ein Hirsch von einem Rudel Wölfe umzingelt war. Aber selbst ein Hirsch kann durchbrechen. An diesem Gedanken hielt er sich fest und betete, daß Pfeifer es genau wie er geschafft hatte, Realgars Leute in den Wäldern abzuschütteln.
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