Trautman antwortete nicht. »Ich verstehe das nicht«, sagte Ben hinter ihnen. Mike drehte sich herum und stellte fest, daß nicht nur er, sondern auch die drei anderen mittlerweile auf das Deck heraufgekommen waren. »Sie haben doch gesagt, daß das Meer an dieser Stelle etwa sechstausend Meter tief ist.« »Richtig«, bestätigteTrautman. »Eben!« sagte Ben. »So tief kann diese Taucherglocke doch bestimmt nicht hinunter.« »Nicht einmal annähernd«, sagte Trautman. »Aber irgend etwas tun sie dort vorne.« »Wofür haben wir eigentlich Torpedos an Bord?« brummte Ben. »Wenn wir die LEOPOLD damit unter Beschüß nehmen, bleibt von dem Kahn nicht mehr viel übrig. Auf die Weise kommt Winterfeld viel schneller auf den Meeresgrund. Und das sogar ganz ohne Taucherglocke.« Er grinste, aber er war der einzige, der das komisch zu finden schien. Mike warf ihm einen zornigen Blick zu. Ben war noch nie gut auf die Deutschen zu sprechen gewesen, aber seit er vom Ausbruch des Krieges erfahren hatte, haßte er sie geradezu. Bereits als Scherz wäre eine solche Bemerkung nicht lustig gewesen, aber Mike kannte Ben gut genug, um zu wissen, daß dieser seine Worte bitterernst meinte. »Und alle anderen Menschen an Bord gleich mit ihm, wie?« entgegnete er heftig. »Selbst wenn Arronax und seine Leute nicht auf der LEOPOLD wären, käme das gar nicht in Frage.« »Ach nein? Was hast du denn sonst vor? Willst du Winterfeld vielleicht freundlich bitten, uns den Professor und die Taucherglocke auszuhändigen?« höhnte
Ben. »Ich bin sicher, daß er deinem Wunsch sofort bereitwillig nachkommen wird.«
»Schluß jetzt!« befahl Trautman scharf, »Hört auf, euch wie kleine Kinder zu benehmen.« Er wandte sich wieder Singh zu. »Das beste wird vermutlich sein, wenn wir den Tag hier abwarten. Sobald es dunkel geworden ist, nähern wir uns unbemerkt der LEOPOLD und versuchen an Bord zu gelangen. Mit ein wenig Glück können wir Arronax und die anderen befreien, ehe Winterfelds Leute überhaupt merken, daß wir da sind.« Er drehte sich halb herum und ließ seinen Blick suchend über die Gesichter der anderen schweifen. »Chris, schalte bitte die automatische Steuerung aus«, sagte er. »Wir bleiben hier, bis es dunkel ist.« Während Chris ins Boot zurückflitzte, um zu tun, was Trautman ihm aufgetragen hatte, fragte Mike: »Und die Taucherglocke? Ich meine: Selbst wenn es uns gelingt, den Professor zu befreien, hat Winterfeld noch immer die Glocke.« »Ohne Arronax nutzt sie ihm nicht viel«, behauptete Trautman. Er schwieg eine Sekunde, bevor er mit einem schrägen Seitenblick auf Ben hinzufügte: »Schlimmstenfalls können wir sie noch immer zerstören. Das wird Arronax zwar das Herz brechen, aber als letzter Ausweg -« Ein dumpfer Knall wehte über das Meer zu ihnen heran, etwas wie ein weit entfernter, einzelner Donnerschlag, so leise, daß er gerade noch an der Grenze des überhaupt Wahrnehmbaren schien. Trotzdem brach Trautman erschrocken mitten im Satz ab, fuhr herum und starrte mit aufgerissenen Augen nach Westen. »Aber das ist doch ...« murmelte er. Er lauschte plötzlich gebannt, und nach einer Sekunde hörte auch Mike etwas: ein ganz leises, hohes Pfeifen, das rasch näher kam und dabei immer mehr an Lautstärke gewann. Und es war nicht das erste Mal, daß er ein Geräusch wie dieses hörte.
»Aber das ist doch unmöglich!« keuchte Trautman. »Sie können uns doch überhaupt nicht sehen!« Aber unmöglich oder nicht -sie alle wußten nur zu gut, was das rasend schnell näher kommende Pfeifen zu bedeuten hatte. Und noch bevor irgendeiner von ihnen etwas sagen konnte, schlug die Granate mit einem ungeheuren Krachen in die Wasseroberfläche ein. Eine turmhohe Schaumsäule explodierte in den Himmel hinauf, und obwohl der Einschlag mehr als hundert Meter entfernt gelegen hatte, erbebte die NAUTILUS unter den Wellen, die plötzlich gegen ihre Flanke schlugen. »Sie schießen auf uns!« keuchte Ben. »Aber das kann doch nicht sein! Sie können doch gar nicht wissen, daß wir hier sind!« Als hätten die Männer auf dem Kriegsschiff am Horizont seine Worte verstanden, ertönte das ferne Donnern ein zweites Mal, und wieder hörten sie das rasch anschwellende Heulen der heranrasenden Granate. »Alles unter Deck! Wir tauchen!« schrie Trautman. Sie fuhren herum und rannten auf den Turm zu. Jede Sekunde, die er eher hinter dem Kommandopult des Schiffes stand, mochte über Leben und Tod entscheiden. Zweifellos hatte Chris getan, was Trautman ihm aufgetragen hatte, und die automatische Steuerung ausgeschaltet, und das bedeutete nichts anderes, als daß die NAUTILUS gleich ganz von selbst anhalten und ein hervorragendes Ziel bieten würde! Dicht hintereinander polterten sie die schmale eiserne Leiter in den Turm und dann die Treppe zum Kommandoraum hinab. Das Schiff erbebte unter einer zweiten Explosion, die die Meeresoberfläche auseinanderriß, und obwohl Mike die brüllende Gischtsäule diesmal nicht sehen konnte, spürte er doch, daß sie weitaus näher lag als die erste. Unmöglich oder nicht -die Kanoniere der LEOPOLD schossen sich allmählich ein. Und sie hatten ja schon einmal eine Kostprobe von der Treffsicherheit der Kanonen des Kriegsschiffes bekommen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die erste Granate die NAUTILUS traf. Mike stolperte hinter Trautman und Singh in den Kommandoraum. Er sah, daß Chris über die Kontrollanzeigen gebeugt dastand und ihnen voll Entsetzen entgegensah -die beiden Explosionen waren auch hier unten deutlich zu hören gewesen, aber Chris konnte ja nicht wissen, was der Lärm und die plötzlichen Erschütterungen bedeuteten. Mike warf einen Blick aus dem riesigen Aussichtsfeilster, das einen Großteil der Steuerbordwand einnahm. Das Wasser, das hier normalerweise so kristallklar und durchsichtig war, daß man Hunderte von Metern weit sehen konnte, sprudelte und schäumte. »Was ist passiert?« fragte Chris entsetzt. »Ich ... ich habe nur die automatische Steuerung ausgeschaltet. Wirklich, ich habe nichts angerührt!« Offensichtlich glaubte Chris, daß der Lärm und die kochenden Wogen seine Schuld waren. Niemand antwortete, alle waren mit einem Sprung an ihrem Platz hinter den Kontrollinstrumenten. Trautman selbst ließ sich in den Kapitänssessel fallen. Seine Hände schienen plötzlich zu eigenem Leben zu erwachen und ein Dutzend verschiedener Dinge gleichzeitig zu tun. Aber auch Mike und die anderen waren für die nächsten Augenblicke vollauf beschäftigt. Sie hatten während der Fahrt hierher Zeit genug gehabt, sich mit der Steuerung der NAUTILUS vollends vertraut zu machen, und sie hatten auch einen Fall wie diesen geübt - sozusagen aus dem Stand heraus Fahrt aufzunehmen und zu tauchen. Allerdings hätte sich wohl keiner von ihnenauch nur träumen lassen, daß sie ihre Übungen so schnell in die Praxis umsetzen würden -und daß es dabei um ihr Leben ging. Und so war es auch. Mike warf einen Blick aus dem Fenster - und schloß geblendet die Augen, als die nächste Granate der LEOPOLD so nahe bei der NAU-TILUS explodierte, daß der grelle Lichtblitz für einen Moment alle Farben auslöschte und schmerzende Nachbilder auf Mikes Netzhaut hinterließ. Eine halbe Sekunde später erbebte die NAUTILUS wie unter einem Hammerschlag. Mikes Herz machte einen erschrockenen Sprung, als er spürte, wie sich das riesige Tauchboot schwerfällig auf die Seite legte. Für ein paar Sekunden war das Meer vor dem Fenster verschwunden, und statt dessen fiel grelles Sonnenlicht in den Raum. Dann kippte das Schiff mit solcher Wucht in die Waagrechte zurück, daß Mike um ein Haar aus seinem Sessel geschleudert worden wäre. »Das war knapp«, sagte Trautman trocken. »Machen wir, daß wir wegkommen. Ich fürchte, der nächste Schuß trifft.« Das Meer vor dem Fenster begann allmählich dunkler zu werden, als das Schiff immer steiler in die Tiefe sank. Eine weitere Granate explodierte über ihnen, und sie wurden erneut durchgeschüttelt; allerdings nicht mehr so heftig wie das letzte Mal. »Dreißig ... vierzig ... fünfundvierzig Meter.« Trautman las die Anzeige des Tiefenmessers laut ab. »Ich glaube, das reicht. Aber das war verdammt knapp.« Etwas im donnernden Takt der Maschinen änderte sich, und der Boden begann sich wieder zu heben. Sie fuhren noch immer mit Höchstgeschwindigkeit, sanken aber nicht mehr tiefer. Trautman richtete sich hinter seinem Kommandopult auf. Mike sah erst jetzt, daß sein Gesicht schweißnaß war und seine Hände leicht zitterten. Trotz seiner äußerlichen Ruhe war ihm die entsetzliche Gefahr, in der sie alle geschwebt hatten, bewußt gewesen. Irgendwie fand Mike den Gedanken, daß auch Trautman Angst gehabt hatte, beruhigend, obwohl er sich dies im ersten Moment selbst nicht erklären konnte. Singh betrat die Brücke. Sein Haar, sein Gesicht und seine Schultern waren naß, er hatte die Luke wohl im allerletzten Moment zubekommen, und er schien gestürzt zu sein, denn er blutete aus einer kleinen Platzwunde über dem Auge. Noch ehe Trautman etwas sagen konnte, wandte er sich an Mike. »Seid Ihr verletzt, Herr?« Mike schüttelte den Kopf. »Was ... was ist überhaupt passiert?« fragte Chris verdattert. »Ist ... ist irgend etwas kaputtgegangen?« »Ja«, maulte Ben, ehe Mike oder Trautman antworten konnten. » Wir wären um ein Haar kaputtgegangen. « Er schoß einen giftigen Blick in Mikes Richtung ab und fügte böse hinzu: »Das war ein schöner Gruß von deinem Freund Winterfeld.« »Winterfeld ist nicht mein Freund«, antwortete Mike ärgerlich. »Er ist -« Trautman unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Aufhören!« sagte er scharf. »Habt ihr zwei nichts Besseres zu tun, als euch zu streiten?« Ben duckte sich ein wenig unter seinen Worten, aber seine Kampfeslust war keineswegs gestillt. »Doch«, antwortete er patzig. »Zum Beispiel darüber nachzudenken, wieso uns ein Schiff beschießt, dessen Besatzung gar nicht wissen kann, daß wir hier sind. Das war ja fast so, als hätten sie auf uns gewartet!« André seufzte. »Jetzt kommt wieder die Verrätertheorie«, murmelte er. »Wen von uns willst du denn diesmal verdächtigen?« »Schluß damit!« fuhr Trautman dazwischen. Seiner Stimme war anzuhören, daß er nahe daran war, die Geduld zu verlieren. Aber Mike mußte zugeben, daß Ben nicht ganz Unrecht hatte. Es warwirklich fast, als hätte Winterfeld gewußt, daß sie kamen. Singhs Überlegungen gingen offensichtlich in die gleiche Richtung, und anders als Mike sprach er seine Gedanken laut aus: »Der Junge hat recht, selbst wenn sie gewußt haben, daß wir sie suchen - wie konnten sie uns überhaupt sehen? Wir sind Meilen von der LEOPOLD entfernt.« »Das wüßte ich auch gern«, murmelte Trautman. Sein Gesicht war voll Sorge aber da war etwas in seinen Augen; ein Ausdruck, den Mike noch nie zuvor darin erblickt hatte und der ihm ganz und gar nicht gefiel. »Winterfeld muß vollkommen den Verstand verloren haben!« fuhr Trautman erregt fort. »Na gut -wenn dieser feine Herr Krieg haben will, dann kann er ihn bekommen.« Mike tauschte einen Blick mit Singh. Auch dem Inder war die Veränderung, die plötzlich mit Trautman vor sich gegangen war, nicht verborgen geblieben. Und sie schien ihm so wenig zu gefallen wie Mike. »Wie meinen Sie das?« fragte Mike. »Unseren ursprünglichen Plan können wir vergessen«, antwortete Trautman. »Wie die Dinge liegen, kommen wir nie unbemerkt an Bord der LEOPOLD. Aber ich denke,daß wir immer noch die eine oder andere Überraschung für diesen Herren bereit haben. Die NAUTILUS verfügt noch über ganz andere Möglichkeiten. Als wir noch unter Kapitän Nemo fuhren, waren wir mehr als einmal in schlimmeren Situationen. Ich werde euch zeigen, wie wir solche Probleme damals gelöst haben.« »Sind Sie sicher, daß das auch klug ist?« fragte Mike. Trautman lachte, leise und auf eine Art, die Mike frö
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