schwimmende Stadt aus Stahl war. Trautman und die anderen erwarteten sie in der Kommandozentrale. Die anderen, das waren Ben, André und Chris, wie Mike Schüler in Andara-House, und
dazu Ghunda Singh, der Sikh-Krieger, Mikes Diener und Leibwächter. »Na endlich«, brummte Ben, als Mike und Juan eintraten. Er wollte noch mehr sagen, erntete jedoch einen so scharfen Blick Trautmans, daß er den Mund wieder zuklappte. Ben war vermutlich der einzige, der sich auf das Ende der Reise freute. Anfangs hatte er am schärfsten dagegen protestiert, die NAUTILUS zu zerstören - allerdings nicht, weil er so an dem Schiff hing, sondern weil er fand, es müßte der englischen Marine übergeben werden. Seit er eingesehen hatte, daß er weit und breit der einzige war, der das für eine gute Idee hielt, hatte er sich nach Kräften bemüht, ihnen die Freude an der Reise zu verderben. Trautman musterte Mike einige Sekunden lang. Seine Finger spielten nervös mit einer zusammengerollten Zeitung: einer beinahe drei Wochen alten Ausgabe der TIMES, die sie auf dem Weg hierher erstanden hatten. Trautman war damals eigens dafür an Land gegangen, was im Moment ein nicht unerhebliches Risiko darstellte. Nach fünfzehn Jahren, die er in vollkommener Isolation verbracht hatte, war er neugierig, was in der Welt vor sich ging. Aber schon die Schlagzeile hatte ihm jegliche Lust an der weiteren Lektüre genommen: Sie sagte, daß der Ausbruch eines Krieges nun so gut wie unvermeidlich geworden sei. Und so wie es aussah, war die Behauptung nicht übertrieben gewesen. »Bist du soweit?« erkundigte sich Trautman. Mike riß seinen Blick von der zusammengerollten Zeitung los und nickte widerstrebend. »Dann laßt uns gehen«, sagte Trautman und wandte sich zur Tür. Ohne ein weiteres Wort folgten sie Trautman die schmale Treppe zum Turm und danach auf das Deck der NAUTILUS hinauf. Sie waren in der Nähe von Alderney aufgetaucht. Ur
sprünglich hatte Trautman vorgehabt, die Themsemündung direkt anzusteuern und sie irgendwo in der Nähe von London an Land zu setzen, was sich jedoch als unmöglich erwiesen hatte. Das Meer wimmelte nur so von Kriegsschiffen, und vor allem die Themsemündung wurde streng bewacht. Schon die ganze Zeit war die politische Lage in Europa ernst gewesen: Der Balkan war schon seit Jahren Krisengebiet, und zwischen dem deutschen Kaiserreich auf der einen und Frankreich und Großbritannien auf der anderen Seite gab es tiefgehende Spannungen. Die große Zahl von Kriegsschiffen vor der englischen Küste deutete darauf hin, daß sich die Situation seither offenbar noch beträchtlich verschärft hatte. Deshalb hatte es einige Tage gedauert, bis Trautman entschieden hatte, sie auf der Kanalinsel abzusetzen. Von dort aus sollten sie mit einer Fähre nach England übersetzen. Ein kalter Wind blies ihnen in die Gesichter, als sie auf das Deck der NAUTILUS hinaustraten. Es war spät in der Nacht, und passend zu Mikes Stimmung waren schwarze Regenwolken am Himmel aufgezogen, die das Licht der Sterne und des Mondes verschluckten, so daß fast vollkommene Dunkelheit herrschte, in der die wenigen Lichter der kleinen Hafenstadt wie ein Sternenband aufleuchteten. Trautman deutete wortlos auf das kleine Ruderboot, mit dem sie an Land gehen würden. Die NAUTILUS hatte sich der Küste so weit genähert, wie es ging, trotzdem lag zwischen ihnen und dem Strand noch eine gute Meile. Leichter Nebel war aufgezogen, der ihnen eine unbemerkte Landung ermöglichen würde: Außerdem war Alderney eine kleine Insel, mit einem kleinen Hafen, den sich sicherlich niemand zu bewachen die Mühe machte.
»Also los«, sagte Trautman. »Das Wetter ist günstig. In einer Stunde wird es hell. Wenn sich der Nebel verzieht, möchte ich nicht mehr hier sein. Beeilt euch.« Diese beinahe rüde Art überraschte Mike, aber dann begriff er, weshalb sich der Kapitän der NAUTILUS so benahm. Nicht nur Mike hatte längst gespürt, daß er und die anderen Trautman ebenso ans Herz gewachsen waren wie er ihnen. Er verbarg nur seinen Schmerz hinter seiner Ruppigkeit, um sich und ihnen den Abschied zu erleichtern. Hintereinander kletterten sie an Bord des kleinen Bootes, Juan und Ben griffen nach den Rudern, während André, Chris und Singh das Boot mit vereinten Kräften von der Bordwand der NAUTILUS abstießen. Zuerst schien es ihnen nicht zu gelingen, denn die Strömung drückte das Boot immer wieder gegen das große Schiff, fast als hätte es einen eigenen Willen und wollte ebensowenig hier weg wie Mike und die anderen. Aber schließlich war der Abstand doch groß genug, Juan und Ben tauchten ihre Ruder ins Wasser und begannen zu pullen. Während der ganzen Zeit wandte Mike den Blick nicht von der NAUTILUS ab. Selbst als sie schon längst vom Nebel verschluckt worden war, starrte er unverwandt weiter in die Richtung, in der er das Schiff wußte. Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, nicht zu weinen, konnte er die Tränen nun doch nicht ganz unterdrücken -aber er war nicht der einzige. Chris, der mit seinen neun Jahren der Jüngste von ihnen war, weinte ganz offen, aber auch André und sogar Juan drehten ein paarmal den Kopf weg und wischten sich verstohlen über die Augen. Lediglich Singh ließ sich wie üblich keine Gefühlsregung anmerken, und Ben -was auch sonst? -gab sich alle Mühe, seinem Ruf als Miesepeter gerecht zu werden.
»Wirklich toll«, kommentierte er, nachdem sie sich ein gutes Stück von der NAUTILUS entfernt hatten. »England befindet sich wahrscheinlich schon im Krieg mit den Deutschen, und dieser alte Narr will das großartigste Schiff versenken, das jemals gebaut wurde. Würden wir die NAUTILUS der britischen Marine zur Verfügung stellen, könnte sie den Verlauf dieses Krieges entscheidend beeinflussen.« »Halt die Klappe«, sagte André. Auch er starrte weiter in den Nebel zurück, und in seinem Gesicht stand derselbe Kummer geschrieben, den auch Mike verspürte. »Aber sicher, ich halte sofort den Mund«, maulte Ben. »Ich meine -warum sollte ich auch was sagen? Die NAUTILUS auf unserer Seite könnte ja nur vielleicht Tausende von Menschenleben retten.« »Oder aber kosten«, entgegnete Juan an Andrés Stelle. Er seufzte. »Das haben wir doch schon oft genug durchgekaut, oder?« »Aber da wußten wir noch nicht, daß der Krieg tatsächlich ausgebrochen ist. Das ist eine völlig andere Situation.« Ben hielt für einen Moment mit Rudern inne und blickte Juan herausfordernd an. »Willst du vielleicht, daß die Deutschen gewinnen?« »Bitte schweig«, sagte Singh plötzlich. »Erweise ihm diese letzte Ehre. Er hat sie wahrlich verdient.« Mike blinzelte. Juan, André und selbst Chris hatten auf einmal einen sehr sonderbaren Ausdruck auf dem Gesicht, und Mike überfiel ein unbehagliches Gefühl. »Was ... meinst du damit?« fragte er zögernd. Singh wandte den Kopf und sah ihn aus seinen schwarzen, unergründlichen Augen an: »Wir werden Trautman nicht wiedersehen, Herr. Er wird die NAU-TILUS auf ihrer letzten Fahrt begleiten.« »Das weiß ich«, antwortete Mike, »aber wieso -« Er stockte. Dann begriff er - und fuhr so erschrocken in die Höhe, daß das winzige Boot wild auf dem Wasser zu schaukeln begann. »Du meinst -« »Er meint, daß Trautman mit der NAUTILUS untergehen wird«, fiel ihm Juan ins Wort. »Und jetzt sag bloß noch, du hast das nicht gewußt!« Aber genau so war es. Mike gestand sich ein, daß er bis jetzt noch nicht einmal darüber nachgedacht hatte, was Trautman tun würde, nachdem er die NAUTI-LUS versenkt hatte. Die Antwort war einfach: Er würde nichts tun, weil er mit dem Schiff sterben würde. Er würde es irgendwo versenken, wo das Meer tief genug war, daß der Wasserdruck es zermalmen würde, und Trautman würde an Bord bleiben. Er liebte die NAUTILUS über alles und hatte die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens das Schiff bewacht. Wenn es nicht mehr da war, hatte auch sein Leben seinen Sinn verloren. Er würde zusammen mit der NAUTILUS untergehen: das Schiff, das er fast ein Menschenleben lang beschützt und bewacht hatte, würde nun zu seinem Grab werden. »Das ... das darf er nicht«, stammelte er. »Das lasse ich nicht zu! Kehrt um! Rudert sofort zurück.« Ben schürzte nur verächtlich die Lippen und pullte weiter, während Juan ihn voll Mitgefühl ansah. Singh legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Es hätte keinen Sinn«, sagte er. »Wahrscheinlich ist er bereits fort. Und selbst wenn nicht - Ihr wißt, daß er so handeln muß. Ihr könntet ihn nicht aufhalten. Ihr würdet es nur für uns alle schwerer machen.« Mike schlug seine Hand beiseite und funkelte ihn an. Gleich darauf tat ihm seine eigene Unbeherrschtheit schon wieder leid - aber Singh schien sie ihm nicht übelzunehmen. Er spürte wohl, daß es nur seine Art war, mit dem Entsetzen fertig zu werden.
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