Tatsächlich nahm die NAUTILUS wieder Fahrt auf, überholte die Fähre und ging schließlich kaum einen Meter neben der Fähre längsseits, so daß sie scheinbar stillzustehen schien. Hinter dem riesigen Bullauge im Turm bewegte sich ein Schatten, dann wurde die Turmluke geöffnet. Eine Sekunde lang war es, als hielten alle Leute an Bord den Atem an, aber als nichts geschah, brach die Panik tatsächlich aus. Ein Teil der Menschenmenge versuchte entsetzt, von der Reling und der vermeintlichen Geheimwaffe zurückzuweichen, während von hinten andere herankamen -ein unvorstellbares Gedränge entstand, in dem niemand mehr wirklich von der Stelle kam. »Trautman will, daß wir wieder an Bord kommen«, rief Mike voll Aufregung. Er wartete nicht ab, ob Juan und André antworteten, sondern schwang sich mit einer entschlossenen Bewegung auf die schmale Metallreling hinauf. Die Fähre war ein ziemlich flaches Schiff, so daß sich der Rücken der NAUTILUS fast auf gleicher Höhe mit ihrem Deck befand. Hinter ihm klangen erschrockene Schreie auf. Jemand versuchte ihn zurückzuhalten, aber Mike streifte die Hand ab und nutzte den Schwung dieser Bewegung zugleich, um sich abzustoßen. Der Sprung war nicht sehr tief, aber er verlor auf dem nassen Metall um ein Haar die Balance und kämpfte mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht, dann hatte er festen Halt gefunden. »Kommt schon!« rief er. Den anderen blieb keine Wahl mehr. Nach dem Sprung war für die Besatzungsmitglieder der Fähre klar, daß Mike und seine Begleiter etwas mit dem mysteriösen Ungetüm zu tun hatten, das so jäh aus dem Meer aufgetaucht war. Rücksichtslos drängten sie sich durch die Menschenmenge auf die Jugendlichen zu.
Juan war der nächste, der sprang. Mike packte ihn, bevor er stürzen konnte. Ihm folgte André. Von Ben war noch immer nichts zu entdecken. Zwei Besatzungsmitglieder hatten inzwischen Singh erreicht, und versuchten ihn zu packen. Singh versetzte dem einen einen Stoß, der ihn in die Menschenmenge zurücktrieb, und rammte dem anderen den Ellbogen in den Magen, daß er sich vor Schmerz krümmte. Noch in der gleichen Bewegung fuhr Singh herum, stieg mit einem Fuß auf die schmale Reling - und warf den völlig perplexen Chris einfach zu ihnen herüber! Noch während Mike und Juan gemeinsam vorsprangen, um Chris aufzufangen, stieß Singh sich ab und landete geschmeidig auf dem Deck der NAUTILUS. Mike hastete auf den Turm zu, stieg die kleine Leiter hinauf und schwang sich durch die Luke ins Innere des Unterseebootes, wo Trautman ihn erwartete. »Was ist passiert?« fragte Mike. Trautmans Aufregung war unverkennbar. »Später«, antwortete er knapp. »Erst einmal müssen wir hier weg. Wo sind die anderen?« Juan und André polterten bereits die schmale Eisenleiter in den Turmhinunter. Über ihnen erschien Singhs Gestalt, und endlich sahen sie auch Ben. Durch das der Fähre zugewandte Bullauge beobachtete Mike, wie Ben ein ganzes Stück zum Heck hin vergeblich versuchte, sich durch die Menge zu quetschen. Als er einsah, wie wenig Sinn dieses Unterfangen hatte, sprang er kurzerhand über Bord und begann mit kräftigen Bewegungen auf das Boot zuzukraulen. Ben war ein guter Schwimmer, aber an Bord der Fähre hatte sich die Situation dramatisch verändert: Zwei Männer in dunkelblauen Uniformen bahnten sich ihren Weg zur Reling, und Mike bemerkte voller Schreck, daß einer ein Gewehr trug.
Trautman und Singh verständigten sich mit einem schnellen Blick. Während Trautmans Finger über die Kontrollen huschten, Schalter umlegten, Knöpfe drückten und Hebel betätigten, kletterte Singh die Leiter wieder hinauf und verharrte auf der zweitobersten Sprosse, um Ben beim Einsteigen zu helfen. »Aber die werden doch nicht etwa auf ihn schießen!« sagte Juan ungläubig. Wie zur Antwort krachte vom Deck der Fähre ein Schuß. Allerdings galt der Angriff nicht dem Jungen im Wasser, sondern der NAUTILUS selbst. Die Kugel knallte gegen den Turm und heulte als Querschläger davon. Natürlich konnte eine Gewehrkugel dem gewaltigen Schiff keinen Schaden zufügen; selbst die Bullaugen bestanden aus fünf Zentimeter dickem Quarzglas, das ein solches Geschoß nicht einmal anzukratzen vermochte. Trotzdem fuhren alle im Turm so erschrocken zusammen, als wäre das Schiff von einem Kanonenschuß getroffen worden. »Er ist auf Deck!« rief Singh zu ihnen hinab. »Los!« Trautman schob einen großen Hebel nach vorne, und die NAUTILUS begann sich schwerfällig in Bewegung zu setzen. Das Schiff war so konstruiert, daß es notfalls auch von einem einzigen Menschen gesteuert werden konnte, allerdings standen zahlreiche Funktionen dann nicht zur Verfügung. Um alle Fähigkeiten des Tauchbootes voll zu nutzen, war eine Besatzung von wenigstens einem Dutzend Mann erforderlich. Jetzt näherten sich Bens hastige Schritte dem Turm. Vor den beiden Bullaugen stieg eine sprudelnde Wasserlinie in die Höhe. Ben schaffte es, aber buchstäblich im allerletzten Moment. Kaum eine Sekunde, bevor sich das Wasser endgültig über der NAUTILUS schloß, sprang er mit einem Satz die Leiter herab, und beinahe gleichzeitig knallte Singh den Lukendeckel über sich zu -allerdings nicht schnell genug. Ein Schwall eisigen Wassers schoß herein und ergoß sich über Ben, der gerade erst aus dem Wasser heraus war. Ben begann zu schimpfen, aber niemand achtete darauf. Das Schiff sank immer schneller und entfernte sich gleichzeitig weiterhin von der Fähre. Im Inneren des Turmes wurde es düster, als die NAUTILUS immer tiefer sank, um eventuellen Verfolgern zu entgehen. Mike schätzte, daß sie sich jetzt schon gute zwanzig oder gar dreißig Meter unter der Meeresoberfläche befanden. Trotzdem blieb Trautman noch eine geraume Weile gebannt über seine Kontrollen gebeugt stehen, ehe er sich mit einem hörbaren Seufzen aufrichtete und zu ihnen herumdrehte. »Alles in Ordnung?« fragte er. Er sah ziemlich erschöpft aus, fand Mike. Es war etwa zwei Stunden her, daß sie sich voneinander verabschiedet hatten, aber Trautman schien in dieser Zeit um Jahre gealtert zu sein. »Was ist passiert?« fragte Mike noch einmal. »Warum sind Siezurückgekommen?« Trautman legte einen Schalter am Kommandopult um, trat von dem fast mannsgroßen Steuerrad zurück und deutete auf die eiserne Wendeltreppe im Boden, die tiefer ins Innere des Schiffes hinabführte. Der eigentliche Kommandoraum der NAUTILUS befand sich
im Rumpf des Schiffes, zwei Etagen unter ihnen. Mike hatte das Gefühl, gleich vor Neugier platzen zu müssen, aber irgendwie brachte er das Kunststück fertig, sich zu beherrschen. Sie folgten Trautman in den großen, behaglich eingerichteten Kommandoraum
der NAUTILUS und zu einem Tisch in der Ecke, auf
dem eine Zeitung lag; die TIMES, die Trautman vor
etwa drei Wochen gekauft hatte. Mike warf einen flüchtigen Blick auf die Schlagzeilen, die in zehn Zentimeter großen Lettern auf der Titelseite prangten: GROSSBRITANNIEN STELLT DEM KAISER EIN ULTIMATUM! IST DER KRIEG NOCH ZU VERMEIDEN? Für einen kurzen Moment überlegte Mike, ob Trautman tatsächlich nur wegen des Kriegsausbruches seine Absicht geändert hatte. Doch Trautman schlug die Zeitung weiter hinten auf. »Hier«, sagte er, während er sie Mike reichte. »Ich habe es vorhin erst entdeckt, als ich noch einmal darin geblättert habe. Dabei hatte ich es die ganze Zeit über praktisch vor der Nase! Meine Schuld. Lies!« Mike überflog rasch den Artikel während sich die anderen im Halbkreis hinter ihm aufstellten und versuchten, über seine Schulter zu blicken. Die Meldung bestand nur aus wenigen Sätzen und besagte, ein deutsches Kriegsschiff habe eine friedliche französische Forschungsexpedition im Atlantik überfallen, ihr Schiff und die gesamte Ausrüstung gekapert und die Besatzung gefangengenommen - bis auf einen einzigen Mann, der wie durch ein Wunder hatte entkommen können. Verwirrt runzelte Mike die Stirn und gab Trautman die Zeitung zurück. »Und?« fragte er. Der Artikel war sicher bemerkenswert, aber er begriff nicht ganz, wieso Trautman darüber so aufgeregt war. »Schau dir den Namen des Mannes an, der die Expedition geleitet hat«, sagte Trautman. »Professor Ar-ro-nax«, buchstabierte Mike den ungewöhnlichklingenden Namen. »Und?« Der Name sagte ihm nichts -aber er bemerkte, daß Singh leicht zusammenfuhr. »Professor Arronax gehört zu den wenigen noch lebenden Menschen, die jemals an Bord der NAUTILUS waren«, erklärte Trautman. »Seit der Begegnung mit
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