Trautman wich seinem Blick aus, und auf Arronax' Gesicht machte sich ein deutlicher Schrecken breit. »Was gesagt?« fragte er. »Ich bin noch nicht dazu gekommen«, murmelte Trautman -und Mike spürte, daß das nicht stimmte. »Wozu sind Sie noch nicht gekommen?« fragte Arronax scharf. »Sie existiert nicht mehr«, sagte Ben etwas spöttisch. »Das Ding ist in die Luft geflogen, nachdem die Deutschen die Kleine herausgeholt haben.« Er machte eine Bewegung mit beiden Händen, um die Explosion zu verdeutlichen. Arronax wurde blaß. »Das ... das ist nicht wahr!« keuchte er. »Doch«, sagte Mike, so ruhig, wie er konnte. »Winterfelds Soldaten haben den Sarg mit dem Mädchen herausgeholt. Und kurz danach ist die Unterseekuppel explodiert. Die Explosion hätte um ein Haar auch die NAUTILUS vernichtet.« »0 nein«, stöhnte Arronax. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Ausdruck so abgrundtiefer Enttäuschung aus, daß Mike sich beherrschen mußte, um ihm nicht tröstend die Hand auf die Schulter zu legen. Von alldem schien Ben nicht viel mitzubekommen, denn er fügte mit einer Geste auf Mike hinzu: »Unser kleiner Prinz hier meint, es wäre eine Automatik gewesen, die die Kuppel gesprengt hat, nachdem man die Prinzessin« - er betonte das Wort so, daß Mike ihm am liebsten dafür mit der Faust auf die Nase geschlagen hätte - »herausgeschafft hat.« Arronax sah Mike an. »Ein kluger Gedanke«, sagte er. »Das könnte sogar stimmen. Wenn es die Prinzessin war.« »Sie wissen nicht nur von mir, wer sie ist, nicht wahr?« fragte Mike.
Arronax zögerte. Er wich seinem Blick aus. Seine Hände strichen in einer unbewußten Geste über die Tischkante. »Ich bin nicht sicher«, sagte er. »Aber wie kann man überhaupt sicher sein, bei etwas, was so lange zurückliegt?« Wieder schwieg er einige Augenblick, dann gab er sich einen sichtbaren Ruck. »Habt ihr in der Kuppel sonst noch etwas gefunden?« fragte er. »War noch irgend etwas anderes Außergewöhnliches dort? Irgendein anderes ... Geschöpf?« Mike schwieg. Ben sagte: »Nur Dornröschen. Und dieses schwarze Mistvieh da.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Astaroth, der träge das Auge öffnete und wie zur Antwort so ausgiebig gähnte, daß man fast seine Schwanzspitze sehen konnte. »Dieser Kater stammt aus der Kuppel?« vergewisserte sich Arronax. Mike und Trautman nickten gleichzeitig. Arronax saß da und starrte den Kater an, und Astaroth erwiderte seinen Blick mit der kühlen Herablassung, zu der nur Katzen fähig sind. Dann stand Arronax auf, ging langsam zum Bett hinüber und besah sich den Kater sehr aufmerksam aus unmittelbarer Nähe. Zwei- oder dreimal streckte er auch die Hand aus, wagte es aber diesmal nicht, Astaroth wirklich zu berühren. Ein sehr nachdenklicher Ausdruck lag auf Arronax' Gesicht, als er zu den anderen zurückkehrte. »Eine Katze?« flüsterte er. »Eine ganz normale Katze?« Mike hätte ihm sagen können, daß Astaroth alles war, nur keine ganz normale Katze, aber er schwieg. »Was ist daran so seltsam?« fragte Trautman. »Ich meine - auch wir haben uns gewundert, wie das Tier dort hinuntergekommen ist und wovon es gelebt haben mag. Aber es ist trotzdem ein ganz normaler Kater - auch wenn er die eine oder andere Unart hat.« Astaroth gähnte, stand auf, reckte sich ausgiebig und
kam dann mit gemessenen Schritten auf Mike zu. Mit einem eleganten Satz sprang er auf seinen Schoß hinauf und rollte sich dort wieder zusammen, um weiterzuschlafen. Arronax ließ ihn während der ganzen Zeit nicht aus den Augen. »Es ist kaum zu glauben, und doch ...« begann er, sprach aber nicht zu Ende, sondern schüttelte nur mehrmals heftig den Kopf. »Was ist schwer zu glauben?« wollte Mike wissen. Arronax sah in an. »Es ist nur eine Legende«, sagte er. »Und doch habe ich mein Leben lang nach dieser Legende gesucht. Trautman hat dir sicher erzählt, daß ich während der letzten zwanzig Jahre Forschungen über das versunkene Atlantis angestellt habe.« Mike nickte, und Arronax fuhr in versonnenem Tonfall fort, zu erzählen. »Ich glaube, ich kann ohne falsche Scheu behaupten, daß es nicht viele auf der Welt gibt, die mehr über Atlantis wissen als ich. Und doch ist es mir nie gelungen, einen wirklichen Beweis für die Existenz des untergegangenen Reiches zu finden. Die Taucherglocke, die ich in den letzten Jahren bauen ließ, sollte es mir ermöglichen, diesen Beweis zu erbringen, aber leider ist es anders gekommen. Mir war aber immer klar, daß Atlantis mehr als eine Legende sein mußte. Es gibt zu viele Geschichtendarüber, zu viele Überlieferungen, zu viele Hinweise und Unstimmigkeiten, die nicht anders zu erklären gewesen wären. Seht ihr, fast alle alten Völker wissen von Göttern zu erzählen, die über unvorstellbare Macht verfügt haben sollen.« »Und?« fragte Ben. »Aberglaube, mehr nicht.« »Das denken die meisten«, antwortete Arronax. »Doch wenn man genau hinsieht, dann stimmt das nicht mehr. Ich habe Legenden von allen Völkern rund um
den Globus zusammengetragen, und was ich entdeckt
habe, kann kein Zufall gewesen sein. Diese Götter wurden überall gleich beschrieben, ob bei den alten
Ägyptern, den Chinesen, den Maya oder den Germanen: Stets waren sie groß, hellhäutig und hatten blondes Haar. Und stets wurde ihre Herkunft gleich angegeben: die Insel der Götter im Atlantik. Es heißt,daß eine gewaltige Flut ihr Inselreich verschlungen haben soll und ihre Überlebenden sich mit den Menschen vermischten. Sie waren es, die die ersten großen Kulturen gründeten und über sie herrschten. So jedenfalls ist es überliefert worden -nicht nur in einigen alten Schriften, sondern in sehr vielen.« »Na und?« fragte Ben. »Was bedeutet das schon?« »Das Mädchen, wie sah es aus?«, sagte Arronax. »Schlank, mit heller Haut und blondem Haar«, sagte Trautman. »Aber das beweist doch gar nichts«, sagte Ben. »Ein altes Volk, das über die ganze Welt geherrscht haben soll! Pah!« Arronax lächelte gutmütig. »Als man die Gräber der fünf ersten ägyptischen Pharaonen öffnete, stellte man fest, daß siekeine Ägypter waren, sondern Angehörige eines hochgewachsenen, hellhäutigen Volkes.« »Ja, wahrscheinlich waren es Dornröschens Brüder, wie?« maulte Ben. Er klang unsicher. »Eher ihre Urgroßneffen«, verbesserte Arronax. »Nach meinen Forschungen muß Atlantis vor mehr als fünftausend Jahren untergegangen sein. Die Legende sagt, daß seine Herrscher ein Volk von Magiern waren, die über das Wasser geboten. Sie vermochten Sturmfluten heraufzubeschwören oder zu besänftigen, sie konnten es regnen oder jahrzehntelange Dürren über die Länder ihrer Feinde kommen lassen, und es heißt, daß sie sich im Wasser zu bewegen vermochten, als wäre dies ihr natürliches Element.«
»Das Mädchen hatte keinen Fischschwanz«, sagte Ben. Arronax ignorierte ihn. »Es gibt viele Legenden, die vom Untergang von Atlantis berichten«, fuhr er fort. »Die Menschen haben die verschiedensten Gründe für die Katastrophe erfunden, die Atlantis verschlang von dem, daß seine Bewohner in ihrer Machtgier die Götter selbst herausforderten, bis zu dem, daß ein Meteor vom Himmel fiel und Atlantis auslöschte. Mir persönlich erscheint eine Erklärung am wahrscheinlichsten, die ich in einer uralten phönizischen Schrift gefunden habe; zumindest nach dem, was ich nun von euch und Trautman erfahren habe. Nach dieser Schrift sollen die Zauberkönige von Atlantis jahrtausendelang über ihr Inselreich geherrscht und es zu unvorstellbarer Blüte gebracht haben. Sie waren ein Volk von Zauberern, aber sie waren auch sehr umsichtig und weise und lebten mit der Natur in Einklang, nicht wie wir in Konkurrenz. Eines Tages aber begann sich eine schreckliche Krankheit unter den Zauberkönigen auszubreiten. Einige starben sofort, andere wurden wahnsinnig, allen jedoch entglitt die Kontrolle über die furchtbare Macht,über die ihr Geist gebot. Sturmfluten, Taifune, Seebeben und Überschwemmungen suchten Atlantis heim, und alle Versuche der alten Zauberer, der Krankheit Herr zu werden, mißlangen. Schließlich begriffen sie, daß ihr Reich dem Untergang geweiht war, und so taten sich die letzten und mächtigsten Magier vonAtlantis zusammen, um wenigstens einem von ihnen das Überleben zu sichern. Es heißt in dieser Legende, daß sie ein Haus auf dem Meeresgrund bauten, in dem die letzte Prinzessin von Atlantis einen magischen Schlaf schläft, der so lange währen soll, bis es einem späteren, nach ihnen kommenden Volk gelungen sein wird, die Krankheit zu besiegen. Und es heißt weiter«,
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