schloß Arronax mit einem Blick auf den Kater, »daß sie einen Wächter bei ihr zurückließen, der unsterblich war und die Jahrtausende hindurch über sie wachte.« Für einige Augenblicke breitete sich eine fast atemlose Stille in der Kabine aus, Aller Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Astaroth, der beharrlich weiter so tat, als schliefe er. Schließlich war es Ben, der das Schweigen brach. »Ja«, sagte er höhnisch. »Er wartet, bis ihre Feinde die Schuhe ausziehen, dann schlägt er blitzartig zu.« Arronax' Blick drückte vollkommenes Unverständnis aus, während es in Trautmans Augen ärgerlich aufblitzte. Ben grinste, lehnte sich in seinem Stuhl zurück -und kämpfte mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht, als eines der Stuhlbeine abbrach und er haltlos nach hinten kippte. Mit einem gewaltigen Poltern landete er auf dem Boden, sprang sofort wieder hoch und begann wütend zu fluchen. »Deutsche Arbeit, wie?« schimpfte er. Wütend versetzte er dem zerbrochenen Stuhl einen Tritt, der ihn quer durch den Raum schleuderte und vollends in Stücke gehen ließ. »Hoffentlich fällt nicht der ganze Kahn auseinander, wenn ihn ein Windhauch trifft.« Mike und Arronax tauschten einen Blick, aber keiner von ihnen sagte etwas. Mike lauschte in sich hinein, doch auch Astaroths Gedankenstimme blieb stumm. Und trotzdem spürte er, daß Arronax' Erzählung der Wahrheit sehr, sehr nahe gekommen war. »Das ist unglaublich«, sagte Trautman nach einer Weile. »Aber so phantastisch es sein mag - es hilft uns im Moment nicht weiter. Wenn es uns nicht gelingt, zu entkommen und die NAUTILUS mitzunehmen oder schlimmstenfalls zu versenken, dann wird
Winterfeld zu einer Gefahr, die sich jetzt noch gar nicht abschätzen läßt.« »Die Kuppel ist zerstört«, gab Singh zu bedenken. Arronax wiegte betrübt den Kopf. »Ich fürchte, das allein reicht nicht«, sagte er. »Die Tatsache ihrer Existenz beweist endgültig, daß Atlantis keine Legende war -wenn es nicht die NAUTILUS schon getan hat. Und nun, wo er im Besitz des Schiffes ist, wird er nach anderen Hinterlassenschaften der Atlanter suchen. Und finden, fürchte ich.« »So einfach dürfte das nicht sein«, sagte Trautman. »Immerhin haben Sie Ihr Leben lang geforscht, um -« »Das ist ja gerade das Schlimme«, sagte Arronax leise. Trautman wirkte alarmiert. »Was meinen Sie damit?« Arronax zögerte, dann sagte er, ohne einem von ihnen dabei ins Gesicht zu sehen. »Als wir die Expedition ausrüsteten, habe ich all meine Aufzeichnungen mitgenommen. Kapitän Winterfeld ist im Besitz meiner sämtlichen Unterlagen.« Seine Worte erfüllten Mike mit eiskaltem Schrecken. Wenn Winterfeld Arronax' Aufzeichnungen und die NAUTILUS besaß ... das war unvorstellbar. Das Schiff war beschädigt, aber mit den Mitteln der LEOPOLD würde Winterfeld es zweifellos in kürzester Zeit reparieren können. Und wie sie gerade selbst bewiesen hatten, vermochte das Tauchboot Tausende von Metern tief in die See vorzudringen. Doch bevor er seine Befürchtungen in Worte fassen konnte, geschah etwas, was sie Winterfeld und seine Eroberungspläne zumindest für den Moment vergessen ließ. Astaroth fuhr mit einem hysterisch klingenden Fauchen hoch und stieß sich von Mikes Schoß ab, wobei
er so rücksichtslos von allen Krallen Gebrauch machte, daß Mike vor Schmerz aufschrie. Der Kater raste auf die Tür zu, prallte in vollem Lauf dagegen und wurde zurückgeworfen, wobei er sich zwei-, dreimal überschlug. Sofort war er wieder auf den Beinen und rannte ein zweites Mal gegen die Tür. Wie besessen versuchte er sie mit den Pfoten aufzukrallen. »Die Prinzessin!« rief Mike. Diesmal war es nicht die Stimme des Katers, die er vernahm. Vielmehr spürte er dessen Angst, die an Panik grenzende Furcht, die für einen Moment vom Geist des Tieres Besitz ergriffen hatte, und für einen ebenso kurzen Moment drohten diese Gefühle auch ihn zu überwältigen. Er begann am ganzen Leib zu zittern. »Die Prinzessin!« rief er. »Etwas ist mit Serena geschehen!« »Wovon sprichst du?« fragte Trautman. »Serena!« rief Mike noch einmal. »Die Prinzessin! Sie ist aufgewacht!«
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sich der Kater soweit wieder beruhigt hatte, daß Mike es wagte, sich ihm zu nähern und ihn anzufassen. Astaroth hatte so lange versucht, die Metalltür aufzubekommen, bis seine Pfoten blutig geworden waren und seine Kräfte versagten. Die schon fast verheilte Wunde an seinem Hinterlauf war wieder aufgebrochen, und sein Atem ging schwer. Und viel mehr noch, als er es sah, spürte Mike die Erschöpfung der Tieres. Astaroth lag wie leblos auf seinem Schoß. Danach war Mike nicht mehr umhingekommen, Trautman und den anderen zu erzählen, was er wirklich über den Meerkater wußte. Bens Kommentar war ganz so ausgefallen, wie Astaroth selbst prophezeit hatte. Singh sagte wie üblich gar nichts, aber Trautman sah ihn vorwurfsvoll an, nachdem er mit seinem Bericht zu Ende gekommen war, und sagte schließlich leise. »Du hättest es mir sagen müssen.«
»Hätten Sie mir geglaubt?« gab Mike ebenso leise zurück. »Ich weiß es nicht«, gestand Trautman. »Vermutlich nicht - wenigstens am Anfang. Später, nach der Sache mit dem Ventil ...« »Und was hätte es geändert?« fragte Mike. »Das ist also der berühmte, unsterbliche Wächter der Prinzessin«, sagte Ben. Er blickte hämisch auf den Kater herab. »Ein famoser Wächter, der nicht einmal die Tür aufbekommt.« Mike schaute ihn scharf an, dann wandte er den Kopf und sah einen Moment auf den Stuhl herab, der genau in dem Augenblick zerbrochen war, als Ben sich am lautesten über den Kater lustig gemacht hatte. Ben folgte seinem Blick, und Mike konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie er leicht zusammenfuhr. »Du kannst wirklich mit diesem Tier reden?« erkundigte sich Arronax. Mike schüttelte den Kopf. »Reden ist nicht das richtige Wort«, sagte er. »Ich ... Irgendwie spüre ich in mir, was er sagt.« »Sicher«, fügte Ben spöttisch hinzu. »Und du als einziger, nicht wahr?« Mike blieb ernst. »Es muß irgend etwas damit zu tun haben, daß er mich gebissen hat«, sagte er. »Mich hat er gekratzt«, sagte Ben giftig. »Und ich höre rein gar nichts. Das heißt ...« Er runzelte die Stirn, überlegte eine Sekunde und fuhr in nachdenklichem Tonfall fort. »Letzte Nacht habe ich mir eingebildet, meine Nachttischlampe hätte zu mir gesprochen. Vielleicht war es gar keine Einbildung.« »Bestimmt nicht«, pflichtete ihm Mike bei. »Du solltest abends jetzt genauer hinhören. Und dir vor allem angewöhnen, in deinen Schuhen zu schlafen.« »Schluß jetzt, ihr beiden«, sagte Trautman streng. Er
deutete auf den Kater. »Wenn du dich wirklich mit diesem Tier verständigen kannst, müssen wir das ausnutzen. Vielleicht verschafft es uns einen entscheidenden Vorteil.« »Das Tier ist Serenas Wächter, vergessen Sie das nicht«, wandte Arronax ein. »Es wird nichts tun, was die Prinzessin irgendwie in Gefahr bringt.« Vor der Tür wurden Schritte laut. Sie hörten das scharrende Geräusch des Riegels, und einen Augenblick später wurde die Tür geöffnet, und zwei bewaffnete Soldaten traten ein. Hinter diesen erkannte Mike die Silhouetten zweier weiterer, die mit schußbereiten Waffen auf dem Korridor standen. Winterfeld mochte sie wie Gäste behandeln, aber er beging nicht den Fehler, sie zu unterschätzen. Mike spürte, wie Astaroth sich auf seinem Schoß zu bewegen begann, und hielt den Kater instinktiv fester. »Bitte bleib ruhig«, flüsterte er. »Wir wollen Serena genauso befreien wie du, aber wir müssen abwarten. Wir haben nur diese eine Chance.« Astaroth antwortete auch jetzt nicht, aber Mike glaubte zu spüren, daß das Tier seine Worte verstanden hatte. »Du da!« Einer der beiden Soldaten deutete auf Mike. »Mitkommen. Kapitän Winterfeld will dich sehen.« Mike stand auf und wollte den Kater auf den Stuhl legen, doch Astaroth fauchte so drohend, daß er sein Vorhaben nicht ausführte. Den Kater wie ein schlafendes Baby im Arm, trat er zwischen die beiden Soldaten und dann auf den Gang hinaus. Der Mann, der ihn zum Mitkommen aufgefordert hatte, musterte das Tier finster, schüttelte dann den Kopf und grinste abfällig. Mike schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß Astaroth nichts Unüberlegtes tat. Winterfeld hatte sicher Befehl gegeben, ihn und die anderen mit Respekt zu behandeln.
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