»Manan war da«, sagte sie einschränkend, und ihre Lippen begannen zu zittern. »Er mochte mich und war immer lieb zu mir, immer. Er hat mich beschützt, so wie er es halt verstanden hat, und dafür habe ich ihn getötet, in den schwarzen Schacht ist er gefallen. Ich will nicht nach Havnor gehen. Ich will nicht dorthin gehen. Ich will hierbleiben.«
»Hier — auf Atuan?«
»Hier in den Bergen. Wo wir jetzt sind.«
»Tenar«, sagte er mit seiner ernsten, ruhigen Stimme, »wenn du willst, dann bleiben wir hier. Ich habe kein Messer und wenn es schneit, wird es schwierig werden. Aber so lange wir Nahrung finden …«
»Nein, ich weiß, daß wir nicht hierbleiben können. Ich bin nur kindisch«, sprach Tenar, stand auf, und die Nußschalen fielen um sie auf die Erde. Sie legte neues Holz aufs Feuer. Sie stand schmal und kerzengerade in ihrem beschmutzten Kleid und schwarzen Umhang da. »Alles, was ich kann und weiß, nutzt mir jetzt nichts«, sagte sie. »Und ich habe nichts anderes gelernt. Ich werde es zu lernen versuchen.«
Ged zuckte zusammen und blickte weg, als litte er Schmerzen.
Am nächsten Tag überschritten sie den höchsten Kamm des lohfarbenen Gebirges. Oben auf dem Paß schneite es leicht, und ein eisiger Wind schlug ihnen ins Gesicht, so daß sie fast nichts sehen konnten. Erst als sie ein geraumes Stück auf der anderen Seite hinabgestiegen und aus dem Schneegestöber der Höhe herausgekommen waren, sah Tenar das Land jenseits der Bergkette vor sich liegen. Grün breitete es sich vor ihr aus — das Grün der Tannen, der Weiden, der Felder und der Wiesen. Selbst jetzt, mitten im Winter, unter kahlen Büschen und Wäldern voll grauer Äste sah das Land in dem milden Klima zartgrün aus. Sie standen an einer Geröllhalde, hoch am Berg, und schauten hinab. Wortlos deutete Ged nach Westen, wo die Sonne hinter einer dunklen, aufgebauschten Wolke unterging. Sie selbst war nicht zu sehen, doch am Horizont war ein glitzernder Streif, ähnlich dem Kristallgefunkel an der Decke und der Wand des Gewölbes, ein beglückendes Strahlen am Rande der Welt.
»Was ist das?« fragte sie, und er antwortete: »Das Meer.«
Kurz danach sah sie etwas weniger Wunderbares, aber doch auch wunderbar genug. Sie stießen auf eine Straße und gingen sie entlang. Als die Dämmerung hereingebrochen war, erreichten sie ein Dorf: zehn bis zwölf Häuser, an der Straße entlang aufgereiht. Als es ihr bewußt wurde, daß sie sich unter Menschen befanden, blickte sie bestürzt auf ihren Gefährten. Sie schaute und sah ihn nicht. Neben ihr, in Geds Kleidung, in seinem Gang, in seinen Schuhen, wanderte ein fremder Mann. Seine Haut war weiß, sein Bart verschwunden. Er blickte sie an, seine Augen waren blau und zwinkerten ihr zu.
»Meinst du, ich führe sie hinters Licht?« fragte er. »Wie gefällt dir dein Kleid?«
Sie blickte an sich hinunter. Sie trug einen ländlichen braunen Rock und eine Jacke; um ihre Schultern lag ein großes rotes wollenes Tuch.
»Oh«, sagte sie und blieb wie angewurzelt stehen. »Oh, du bist aber — du bist Ged!« Als sie seinen Namen aussprach, sah sie ihn ganz klar, sein dunkles, vernarbtes Gesicht, das ihr vertraut war, seine dunklen Augen; doch hier stand der Fremde mit dem Milchgesicht.
»Sag nie meinen wahren Namen, wenn andere Leute dabei sind. Ich werde auch deinen nicht gebrauchen. Wir sind Bruder und Schwester und kommen von Tenakbah. Und jetzt, glaube ich, werde ich um etwas Essen bitten, wenn ich ein freundliches Gesicht sehe.« Er ergriff ihre Hand, und sie betraten das Dorf.
Am nächsten Morgen, gesättigt und nach einer geruhsamen Nacht auf dem Heuboden einer Scheune, verließen sie das Dorf.
»Müssen Magier oft betteln?« fragte Tenar, als sie sich auf dem Weg zwischen grünen Wiesen befanden, auf denen Ziegen und kleine, scheckige Kühe weideten.
»Warum willst du das wissen?«
»Es schien dir nichts auszumachen; du hast es sogar sehr gut gekonnt.«
»Ja, weißt du, ich habe mein ganzes Leben lang gebettelt, wenn man so will. Zauberer besitzen nicht viel. Wenn sie auf der Wanderschaft sind, haben sie sowieso nur ihren Stab und ihre Kleidung. Die meisten Leute freuen sich, wenn ein Zauberer sie um Essen oder um Unterkunft bittet. Sie machen es meist wieder wett.«
»Wie?«
»Na, nimm die Frau im Dorf; ich habe ihre Ziegen geheilt.«
»Was hatten sie?«
»Beide hatten entzündete Euter. Als ich klein war, habe ich Ziegen gehütet.«
»Hast du ihr gesagt, daß du sie geheilt hast?«
»Nein. Wie konnte ich das tun? Und warum sollte ich es tun?«
Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Jetzt weiß ich, daß deine Künste nicht nur für große Dinge gut sind.«
»Gastfreundschaft«, sagte er, »Herzlichkeit einem Fremden gegenüber, das sind sehr große Dinge. Sich bedanken hätte genügt, natürlich. Aber mir haben auch die Ziegen leid getan.«
Am Nachmittag erreichten sie eine größere Stadt. Sie war aus Backstein gebaut und ringsum, wie es im Kargadreich üblich war, von einer Stadtmauer mit Schießscharten umgeben, die an jeder der vier Ecken einen Wachtturm und nur ein einziges großes Tor hatte, durch das ein Hirte gerade seine Schafe trieb. Die roten Ziegeldächer von hundert oder noch mehr Häusern lugten hinter der Mauer aus gelblichem Backstein hervor. Zwei Posten mit roten Federbüschen auf den Helmen, die im Dienst des Gottkönigs standen, hielten Wache am Tor. Tenar kannte diese Uniformen. Einmal im Jahr waren Männer in solchen Uniformen an die Stätte gekommen, um Sklaven oder Geld zum Tempel des Gottkönigs als Gabe zu bringen. Als sie im Vorbeischreiten Ged davon erzählte, sagte er: »Ich habe sie auch schon gesehen, als ich noch ein Junge war. Sie kamen nach Gont, um zu plündern und zu rauben. Aber sie wurden vertrieben. Und in Armünde kam es zur Schlacht, und viele sind gefallen. Hunderte, sagt man. Na, jetzt, nachdem die Rune wieder ganz ist, gibt es vielleicht keine Raubzüge und kein Töten mehr zwischen dem Kargadreich und den Innenländern.«
»Es wäre dumm, wenn das nicht aufhören würde«, stimmte Tenar zu. »Was würde denn der Gottkönig mit all den Sklaven tun?«
Ihr Gefährte schien über ihre Worte nachzudenken. »Du meinst, wenn das Kargadreich die Innenländer besiegen würde?« Sie nickte.
»Ich glaube nicht, daß dies je passieren würde.«
»Aber schau doch her, wie stark das Reich ist — diese große Stadt mit ihrer Mauer und all die Männer. Wie könnten eure Länder dem widerstehen, wenn sie angegriffen würden?«
»Das ist keine große Stadt«, sagte er behutsam und freundlich. »Ich hätte sie auch als riesig angesehen, wenn ich gerade von meinem Berg heruntergekommen wäre. Aber in der Erdsee gibt es viele, viele Städte, und verglichen mit diesen ist das hier eine Kleinstadt. Es gibt viele, viele Länder. Du wirst sie sehen, Tenar.«
Sie erwiderte nichts. Sie ging neben ihm, und ihr Gesicht war verschlossen.
»Es ist ganz wunderbar, wenn man sie zum ersten Mal sieht: ein neues Land, eine neue Insel, die sich langsam aus dem Meer hebt, wenn man sich mit dem Boot nähert. Dann sieht man die Wiesen und Felder und Wälder, die Städte mit ihren Höfen und Palästen, die Märkte, wo alles, was es auf dieser Welt gibt, feilgeboten wird.«
Sie nickte. Sie wußte, daß er sie ermuntern wollte, aber sie hatte ihr Glück oben in den Bergen gelassen, dort in dem Flußtal, das im Dämmerlicht lag. In ihrem Herzen war Furcht, und diese Furcht wuchs täglich. Alles, was vor ihr lag, war ihr unbekannt. Sie kannte nichts außer der Wüste und den Gräbern. Und was nutzte ihr das jetzt? Sie kannte die Gänge eines Labyrinths, das in Trümmern lag, sie kannte die Tänze, die vor einem zerstörten Altar getanzt wurden. Sie wußte nichts von Wäldern, Städten oder den Herzen der Menschen.
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