»Kleine Herrin!«
»Was ist los, Manan?« fragte sie müde und blickte ihn voll Zuneigung an.
»Kleines, laß mich das tun, was du gesagt hast … was du gesagt hast, daß es geschehen sei. Er muß sterben, Kleines. Er hat dich verzaubert. Sie wird sich rächen. Sie ist alt und grausam, und du bist noch zu jung. Du bist noch nicht stark genug.«
»Sie kann mir nichts antun.«
»Wenn sie dich töten würde, in aller Öffentlichkeit, wo es jeder sehen könnte, selbst dann gäbe es keinen im ganzen Reich, der es wagen würde, einen Finger gegen sie zu erheben. Sie ist die Hohepriesterin des Gottkönigs, und der Gottkönig herrscht allein. Aber sie wird dich nicht öffentlich töten, sie wird es heimlich tun, mit Gift, in der Nacht.«
»Dann werde ich wiedergeboren werden.«
Manan rang seine großen Hände. »Vielleicht wird sie dich nicht töten«, flüsterte er.
»Was meinst du damit?«
»Sie könnte dich in einem Raum im … dort unten … wie du es mit ihm getan hast. Und du würdest noch jahrelang, noch viele Jahre vielleicht, am Leben bleiben. Und es gäbe keine wiedergeborene Priesterin, denn du bist ja nicht tot. Und es gäbe keine Priesterin der Gräber, und die Tänze der Mondfinsternis würden nicht getanzt werden, und es würden keine Opfer gebracht und kein Blut vergossen werden, und die Verehrung der Dunklen Mächte würde aufhören und vergessen werden, für immer. Sie und ihr Gebieter hätten das gern.« »Sie würden mich freisetzen, Manan.«
»Nicht, solange sie zornig auf dich sind, kleine Herrin!« flüsterte Manan.
»Zornig?«
»Wegen ihm … Die Schändung, die nicht gerächt wurde. Oh, Kleines! Sie kennen kein Vergeben!«
Sie saß im Staub auf der untersten Stufe und hielt den Kopf gesenkt. Sie schaute das winzige Ding an, das sie in der Hand hielt: der Schädelknochen einer Maus. Die Eulen im Dachgebälk über dem Thron bewegten sich leise, es wurde dunkler, die Nacht nahte.
»Geh heute nacht nicht ins Labyrinth«, sagte Manan, kaum hörbar. »Geh in dein Haus und schlaf, und morgen früh geh zu Kossil und sag' ihr, daß du die Verwünschung aufhebst. Das genügt. Du brauchst dir keine Gedanken mehr zu machen. Ich werde ihr den Beweis bringen.«
»Beweis?«
»… daß der Zauberer tot ist.«
Sie saß unbeweglich. Langsam schloß sie die Hand, und der dünne Knochen knirschte und zerbrach. Als sie die Faust öffnete, hielt sie nur ein paar Splitter und Staub in der Hand.
»Nein«, sagte sie und schüttelte den Staub von ihrer Handfläche.
»Er muß sterben. Er hat dich verhext. Du bist verloren, Arha!«
»Er hat mich nicht verhext. Du bist alt und feige, Manan. Du fürchtest dich vor alten Weibern. Wie stellst du dir denn das vor? Wie willst du zu ihm gelangen und ihn töten und den ›Beweis‹ bringen? Kennst du denn den Weg bis zum Großen Schatz, den du letzte Nacht in der Dunkelheit gegangen bist? Kannst du die Ecken richtig zählen, bis zu den Stufen gelangen, am Schacht vorbei bis zur Tür? Kannst du die Tür aufschließen? — Oh, du armer, alter Manan, dein Geist ist schwach. Sie hat dir Angst gemacht. Geh jetzt zum Kleinhaus und schlaf und vergiß das alles. Quäl' mich nicht länger mit deinem Gerede vom Tod … Ich komme später. Geh schon, geh schon, du alter Narr, du alter Bär!« Sie war aufgestanden und schubste Manans breiten Oberkörper, tätschelte ihn und schob ihn fort. »Gute Nacht, gute Nacht!«
Er wandte sich um, zögernd und nichts Gutes ahnend, doch gehorsam, und watschelte den langen Gang zwischen den Säulen unter dem beschädigten Dach hinunter. Sie sah ihn entschwinden.
Geraume Zeit, nachdem er verschwunden war, stand sie auf, drehte sich um, ging um den Fuß des Thrones und verlor sich in der Dunkelheit.
9
DER RING VON ERRETH-AKBE
In der Großen Schatzkammer der Gräber von Atuan stand die Zeit still. Kein Licht, kein Leben, nicht einmal das unmerkliche Weben einer Spinne im Staub, eines Wurmes in der Erde war spürbar. Fels und Finsternis und Zeit standen still.
Auf dem Steindeckel einer großen Truhe lag der Dieb von den Innenländern, ausgestreckt auf dem Rücken, wie eine gemeißelte Figur auf einem Sarkophag. Der Staub, durch seine Bewegungen aufgerührt, hatte sich auf seiner Kleidung niedergesetzt. Er rührte sich nicht.
Das Schloß in der Tür quietschte. Die Tür öffnete sich. Licht zerteilte die Finsternis, und ein frischerer Windzug bewegte die tote Luft. Der Mann lag regungslos.
Arha machte die Tür zu und verschloß sie von innen, stellte ihre Laterne auf eine Truhe und kam langsam auf die regungslose Gestalt zu. Sie näherte sich furchtsam, ihre Augen weit offen, die Pupillen noch ganz groß von dem langen Gang durch die Dunkelheit.
»Sperber!«
Sie berührte seine Schulter und wiederholte seinen Namen noch einmal und noch einmal.
Er rührte sich und stöhnte. Endlich setzte er sich auf, sein Gesicht war erstarrt, seine Augen leer. Er blickte sie an und erkannte sie nicht.
»Ich bin es, Arha — Tenar. Ich habe dir Wasser gebracht. Hier, trink!«
Er griff unbeholfen nach der Flasche, als wären seine Hände gelähmt, und trank, aber nicht viel.
»Wie lange war ich hier?« fragte er, mühsam die Worte formend.
»Zwei Tage sind vergangen, seit ich dich hierhergebracht habe. Dies ist die dritte Nacht. Ich konnte nicht früher kommen. Ich mußte das Essen stehlen. Hier ist es.« Sie zog einen der großen, flachen Laibe aus der Tasche, die sie mitgebracht hatte, aber er schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger … Dies … dies ist ein fürchterlicher Ort.« Er legte den Kopf in die Hände und saß regungslos.
»Ist dir kalt? Ich habe den Umhang vom Bemalten Raum gebracht.«
Er antwortete nicht.
Sie legte den Umhang hin und blickte ihn an. Sie zitterte ein wenig, und ihre Augen waren noch schwarz und weit geöffnet.
Plötzlich sank sie auf die Knie, beugte sich nach vorne und begann zu schluchzen, in heftigen Stößen, die ihren Körper schüttelten, aber keine Tränen in ihre Augen brachten.
Er stieg steif von der Truhe herunter und beugte sich über sie: »Tenar …«
»Ich bin nicht Tenar. Ich bin nicht Arha. Die Götter sind tot. Die Götter sind tot.«
Er strich ihre Kapuze zurück und legte seine Hände auf ihren Kopf. Er begann zu sprechen. Seine Stimme war leise, und die Worte waren in einer ihr fremden Sprache. Ihr Klang drang in ihr Herz wie leise lispelnder Regen. Sie wurde ruhiger und begann zuzuhören.
Als sie sich beruhigt hatte, hob er sie hoch und setzte sie wie ein Kind auf die große Truhe, auf der er gelegen hatte. Er legte seine Hand auf ihre Hände. »Warum hast du geweint, Tenar?«
»Ich werde es dir sagen. Es ist jetzt sowieso alles egal. Du kannst doch nichts tun. Du kannst nicht helfen. Du wirst ja auch sterben. Alles ist jetzt gleichgültig, alles! Kossil, die Priesterin des Gottkönigs, sie war schon immer grausam, sie versuchte, mich zu veranlassen, daß ich dich töte. So wie ich die anderen getötet habe. Und ich tat es nicht. Welches Recht hat sie? Und sie forderte die Namenlosen heraus und verhöhnte sie, und ich habe sie verwünscht. Und seither habe ich Angst vor ihr, denn was Manan sagt, stimmt, sie glaubt nicht an die Götter. Sie will, daß sie vergessen werden, und sie hätte mich im Schlaf getötet. Und so schlief ich nicht. Ich bin nicht ins Kleinhaus zurückgegangen. Die ganze vergangene Nacht verbrachte ich in der Thronhalle und auf dem Speicher, in dem die Tanzgewänder hängen. Bevor es Tag wurde, ging ich zum Großhaus und habe etwas Essen gestohlen, und dann ging ich zurück in die Halle und blieb den ganzen Tag dort. Ich wollte mir überlegen, was ich nun tun soll. Und heute nacht — heute nacht war ich so müde, und ich dachte, ich könnte vielleicht an einen der heiligen Plätze gehen und dort schlafen, irgendwo, wo sie sich fürchtet hinzugehen. Und so ging ich ins Untergrab, das große Gewölbe, wo ich dich zum ersten Mal sah. Und … und dort war sie. Sie muß durch die rote Felsentür gekommen sein. Sie hatte eine Laterne dabei und kratzte an dem Grab herum, das Manan geschaufelt hatte, um zu sehen, ob eine Leiche darin war. Wie eine große, fette Ratte auf einer Grabstätte. Licht brannte an diesem Heiligen Ort, und die Namenlosen duldeten es und rührten sich nicht. Sie töteten sie nicht, sie brachten keinen Wahnsinn über sie. Sie sind alt, wie sie behauptet, sie sind tot. Sie sind verschwunden. Ich bin keine Priesterin mehr.«
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