Sie wachte auf. Ihr Mund war voll Lehm. Sie lag in einem Grab aus Stein, unter der Erde. Ihre Arme und Beine waren mit Grabtüchern festgebunden; sie konnte sich nicht rühren und nicht sprechen.
Die Verzweiflung wuchs und wurde stärker, bis ihre Brust aufbrach und wie ein Feuervogel den Stein zerschmetterte und sich ins Licht des Tages erhob — ins Licht des Tages, das sie, ganz schwach, in ihrem fensterlosen Raum wahrnehmen konnte.
Jetzt ganz wach, setzte sie sich auf, ganz zerschlagen von den Träumen dieser Nacht, ihr Geist benommen. Sie schlüpfte in ihre Kleider und ging hinaus zur Zisterne in dem ummauerten Innenhof des Kleinhauses. Sie tauchte ihre Arme, ihr Gesicht, ihren ganzen Kopf in das eiskalte Wasser, bis ihr Körper sich schüttelte und ihr Blut heftig durch die Adern pulsierte. Dann warf sie ihr Haar zurück, richtete sich hoch auf und blickte hinauf in den morgendlichen Himmel.
Es war noch nicht lange nach Sonnenaufgang, ein heller Wintertag. Der Himmel war gelblich und ganz klar. Hoch oben, so hoch, daß sich das Sonnenlicht in seinem Gefieder fing und er wie ein kleiner, goldener Fleck aussah, kreiste ein Vogel, ein Falke oder ein Adler der Wüste.
»Ich bin Tenar«, sagte sie, nicht laut, und sie zitterte vor Kälte, vor Schreck, von innerem Aufjauchzen, unter dem weiten, sonnenhellen Himmel. »Ich habe meinen Namen wieder. Ich bin Tenar.«
Der goldene Fleck wandte sich nach Westen, den Bergen zu, und verschwand aus ihrem Blickfeld. Die Morgensonne vergoldete die Firstbalken des Kleinhauses. Drunten in den Pferchen bimmelten die Glocken der Schafe. Den Geruch des Holzfeuers und der frischen Buchweizenfladen trug der leichte, frische Wind vom Kamin der Küche herüber.
»Ich bin so hungrig … Woher wußte er es? Woher wußte er meinen Namen? … Oh, ich muß etwas essen, ich bin so hungrig …«
Sie zog ihre Kapuze über den Kopf und rannte zum Frühstück.
Das Essen nach dem dreitägigen, halben Fasten gab ihr Substanz und verlieh ihr Gewicht; ihre Bewegungen waren nicht mehr so zerfahren, ihre Gedanken wirbelten nicht mehr so durcheinander, waren nicht mehr so aufgewühlt. Nach dem Frühstück fühlte sie sich stark genug, um mit Kossil fertig zu werden.
Sie holte die große, schwere Gestalt auf dem Weg aus dem Speisesaal des Großhauses ein und ging neben ihr her. Mit unterdrückter Stimme sagte sie: »Ich habe den Eindringling aus dem Wege geschafft … Wie schön es heute ist!«
Die kalten, grauen Augen unter der schwarzen Kapuze musterten sie prüfend von der Seite.
»Ich dachte, die Priesterin darf drei Tage nach einem menschlichen Opfer kein Essen berühren?«
Das stimmte. Arha hatte es vergessen, und man sah ihrem Gesicht an, daß sie es vergessen hatte.
»Er ist noch nicht tot«, sagte sie in demselben, gleichgültigen Ton, der ihr kurz zuvor noch so leicht gefallen war. »Er wurde lebendig begraben. Unter den Gräbern. In einem Sarg. Etwas Luft muß noch drinnen sein, denn der Sarg ist nicht versiegelt, er ist aus Holz. Der Tod wird ziemlich langsam kommen. Wenn ich weiß, daß er tot ist, werde ich mit dem Fasten beginnen.«
»Wie werden Sie das wissen?«
Verwirrt blickte sie auf und zögerte wieder mit der Antwort: »Ich werde es wissen. Der … Meine Gebieter werden es mir sagen.«
»Ach so! Wo ist das Grab?«
»Unter den Steinen. Ich sagte Manan, daß er es unter dem glatten Stein graben soll.« Sie mußte sich zusammennehmen und nicht so schnell in diesem dummen, beschwichtigenden Ton antworten. Sie mußte Kossil gegenüber ihre Würde bewahren.
»Lebendig, in einem Holzsarg? Das ist eine riskante Sache bei einem Hexenmeister, Herrin! Haben Sie sich vergewissert, daß er nicht sprechen und keine Zaubereien wirken kann? Sind seine Hände gefesselt? Damit kann er auch Zauberei bewerkstelligen, manchmal genügt eine Fingerbewegung, selbst nachdem man ihnen die Zunge herausgeschnitten hat.«
»Mit seiner Hexerei ist es nicht weit her. Nichts als Betrügerei«, sagte Arha und fuhr mit erhobener Stimme fort: »Er ist begraben, und meine Gebieter warten auf seine Seele. Alles andere geht Sie, Priesterin, nichts an.«
Jetzt war sie zu weit gegangen; andere hatten es gehört, Penthe, ein paar weitere Mädchen, Duby und die Priesterin Mebbeth, alle befanden sich in Hörweite. Die Mädchen waren ganz Ohr, und Kossil war sich dessen bewußt.
»Alles, was hier geschieht, geht mich etwas an, Herrin! Und alles, was hier an der Stätte vor sich geht, interessiert den Gottkönig, den Unsterblichen, dessen Dienerin ich bin. Er hat das Recht, die unterirdischen Stätten zu durchforschen, er blickt in die Herzen der Menschen, und keiner kann ihm den Zutritt dazu verwehren!«
»Ich tue es. Keiner betritt die Gräber, wenn die Namenlosen es nicht gestatten. Sie bestanden schon, als es noch keinen Gottkönig gab, und sie werden bestehen, wenn es keinen Gottkönig mehr gibt. Sprechen Sie behutsam von ihnen, Priesterin! Rufen Sie ihre Rache nicht auf sich herab! Sie werden in Ihren Träumen zu Ihnen kommen, sie werden sich in Ihre Seele schleichen auf dunklen Wegen. Den Wahnsinn werden sie bringen!«
Die Augen des Mädchens blitzten. Kossils Gesicht war verdeckt, von der schwarzen Kapuze verborgen. Penthe und die anderen sahen erschreckt und gebannt aus der Ferne zu.
»Sie sind alt.« Kossils Stimme drang leise, ein dünner, pfeifender Tonfaden, aus der Tiefe der Kapuze. »Sie sind alt. Nur hier werden sie noch verehrt. Nirgends sonst auf der Welt wird ihnen noch gehuldigt. Ihre Macht ist vergangen. Es sind nur noch Schatten, machtlose Schatten. Versuche nicht, mir Furcht einzujagen, Verzehrte! Du bist die Erste Priesterin — und bedeutet das nicht, daß du auch die Letzte bist? — Mich kannst du nicht hinters Licht führen. Ich schaue dir ins Herz. Die Dunkelheit verbirgt nichts vor meinen Augen. Sei vorsichtig, Arha!«
Sie wandte sich um und bewegte sich in ihrem langsamen, wuchtigen Gang, das mit Rauhreif bedeckte Unkraut unter ihren großen, schweren, in Sandalen steckenden Füßen zermalmend, auf die weiße Säulenpracht des gottköniglichen Tempels zu.
Arha, dunkel und schmal, stand im vorderen Hof des Großhauses, als sei sie auf dem Boden festgefroren. Nichts rührte sich um sie, niemand bewegte sich außer Kossil, alles war erstarrt, das weite Land um Hof und Tempel, die Hügel, die Wüste, die Berge.
»Mögen die Dunklen deine Seele verzehren, Kossil!« schrie sie. Wie ein Falkenschrei hallte es über die Stätte; mit hocherhobenem Arm und ausgestreckter Hand schmetterte sie die Verwünschung gegen Kossils Rücken, gerade als diese ihren Fuß auf die Treppe des Tempels setzte. Kossil zuckte zusammen, aber sie hielt nicht an, sie wandte sich nicht um. Sie setzte ihren Weg fort und ging durch die Tür in den Tempel des Gottkönigs.
Arha verbrachte den Tag auf der untersten Stufe vor dem Leeren Thron sitzend. Sie wagte nicht, das Labyrinth zu betreten, sie wollte nicht mit anderen Priesterinnen zusammen sein. Schwer lag es auf ihr und hielt sie dort im trüben Dämmerlicht der weiten Halle fest, Stunde um Stunde. Sie starrte auf die Doppelreihe der dicken, bleichen Säulen, die sich in der Düsternis am anderen Ende der Halle verloren, auf die Sonnenstrahlen, die durch die Lücken in der Decke fielen, auf den dicken, sich ringelnden Rauch, der von den glühenden Kohlen in den Bronzeschalen aufstieg. Mit den kleinen Mäuseknochen, die auf den Marmorstufen lagen, zeichnete sie Figuren in den Staub. Sie hielt den Kopf gesenkt, doch ihre Gedanken jagten und überstürzten sich. Wer bin ich? fragte sie sich, und erhielt keine Antwort.
Manan kam schlurfend die Halle herauf, zwischen den Doppelreihen der Säulen, lange nachdem das Tageslicht aufgehört hatte, sich durch die Löcher des Daches zu stehlen, und die Kälte ringsum sich zunehmend verschärft hatte. Manans Mondgesicht sah betrübt aus. Er blieb in einiger Entfernung stehen und ließ seine Arme an den Seiten herunterhängen, ein Stück abgerissener Saum von seinem alten Umhang hing auf seine Ferse nieder.
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