Links aus dem Bemalten Raum hinaus, an zwei Öffnungen vorbei, rechts an der Viererkreuzung, eine Öffnung rechts liegen lassen, dann einen langen, geschwungenen Gang entlang und eine Treppe hinunter, eine lange Treppe mit schlüpfrigen Stufen, viel zu schmal für menschliche Füße. Weiter als diese Stufen war sie noch nie gekommen.
Die Luft war schlechter hier, abgestandener, und hatte einen durchdringenden Geruch. Die Anweisungen waren ihr ganz gegenwärtig, sie glaubte, Thars Stimme zu vernehmen, die sie ihr vorsagte. Immer weiter die Stufen hinunter (sie hörte, wie hinter ihr der Gefangene in der Finsternis stolperte und stöhnte, als ihn Manan mit einem kräftigen Ruck wieder auf die Füße stellte) und unten sofort nach links abbiegen. Halte dich links, an drei Öffnungen vorbei, dann die erste rechts und ganz rechts gehen. Die Gänge waren verwinkelt und gekrümmt, keiner verlief gerade. »Dann mußt du um den Schacht gehen«, hörte sie Thar in der Dunkelheit ihres Gehirns sprechen, »und der Weg ist ganz schmal.«
Sie verlangsamte ihre Schritte, beugte sich nach vorne und fühlte mit ihrer Hand am Boden entlang. Der Gang lief jetzt gerade, um den Wanderer in Sicherheit zu wiegen. Plötzlich fühlte ihre Hand, die unaufhörlich getastet und hin- und hergefegt war, nichts mehr. Ein Steinrand, eine Rundung und hinter dem Rand nur Leere. Die Wand rechts fiel steil ab in den Schacht. Links davon war ein Vorsprung, ein Sims, nicht viel breiter als eine Hand.
»Hier ist ein Schacht. Dreht euch gegen die Wand links, lehnt euch dagegen, geht seitlich, schiebt eure Füße. Halte die Kette, Manan … Seid ihr auf dem Sims? Er wird schmaler. Verlagert euer Gewicht nicht auf die Fersen. So, ich bin am Schacht vorbei. Gebt mir die Hand. Hier …«
Der Gang lief jetzt im Zickzack, mit vielen seitlichen Öffnungen. Aus einigen tönte das Echo ihrer Schritte auf eine seltsam hohle Weise, und noch seltsamer war ein leichter Zug, der nach innen wehte. Diese Gänge mußten in Schächten enden wie der, an dem sie gerade vorbeigegangen waren. Vielleicht lag hier, unter dem tiefsten Teil des Labyrinths, eine Höhle, ein Gewölbe, das so tief, so riesig war, daß das Untergrab daneben klein erschien, eine immense schwarze innerliche Leere. Aber über diesem Abgrund, in den dunklen Gängen, durch die sie sich bewegten, wurde es immer enger und niedriger, daß selbst Arha sich bücken mußte. Hörte das denn nie auf?
Das Ende kam plötzlich: eine verschlossene Tür. Vornübergebeugt, etwas schneller als gewöhnlich gehend, stieß Arha mit dem Kopf und den Händen dagegen. Sie tastete nach dem Schlüsselloch, dann nach dem kleinen Schlüssel mit dem Drachen am Griff, der an ihrem Ring hing und den sie noch nie benutzt hatte. Er paßte und drehte sich im Schlüsselloch. Sie öffnete die Tür zum Großen Schatz der Gräber von Atuan. Stickige, verbrauchte Luft schlug ihr entgegen.
»Manan, du kannst hier nicht eintreten. Warte hier draußen!«
»Er kann, und ich nicht?«
»Wenn du diesen Raum betrittst, Manan, wirst du ihn nicht wieder lebendig verlassen. So lautet das Gesetz, und es gilt für alle, außer für mich. Kein Sterblicher, außer mir, hat je diesen Raum lebendig wieder verlassen. Willst du hereinkommen?«
»Ich warte hier draußen«, sagte die melancholische Stimme aus der Finsternis. »Herrin, Herrin, mach die Tür nicht zu!«
Seine Angst machte sie so nervös, daß sie die Tür offenließ. Dieser ganze Ort erfüllte sie mit geheimem Grauen, und sie fühlte Mißtrauen gegen den Gefangenen in sich aufsteigen, obgleich er eingezwängt war in Eisen. Als sie drinnen war, zündete sie ihr Licht an. Ihre Hände zitterten. Die Kerze in der Laterne wollte nicht brennen. Die Luft war verbraucht und alt. Im gelben, trüben Schein des Lichtes, das nach der langen Dunkelheit hell erschien, war die Schatzkammer voll unruhiger Schatten undeutlich zu erkennen.
Sechs große Truhen befanden sich darin, alle aus Stein, alle mit dickem Staub bedeckt wie Schimmel auf Brot. Die Wände waren uneben, die Decke niedrig. Der Raum war kalt, eine tiefe, luftleere Kälte, die das Blut im Herzen zum Stocken brachte. Keine Spinnweben, nur Staub war zu sehen. Hier unten war nichts Lebendiges, nicht einmal die seltenen kleinen weißen Spinnen des Labyrinths gab es hier. Der Staub war dick, so dick, ein Staubkorn für jeden Tag, der hier vergangen war, hier, wo die Zeit stillstand, wo kein Licht je hinfiel: Tage, Monate, Jahre, Jahrhunderte, zu Staub zerfallen.
»Dies hier ist der Platz, den dugesucht hast«, sagte Arha, und ihre Stimme war ausdruckslos. »Hier ist der Große Schatz der Gräber. Du bist angelangt. Du wirst ihn nie wieder verlassen können.«
Er gab keine Antwort, und sein Gesicht war ruhig, doch in seinen Augen lag etwas, das sie berührte: eine Verzweiflung, der Blick eines Mannes, der sich betrogen fühlte.
»Du hast gesagt, daß du am Leben bleiben willst. Dies hier ist der einzige Ort, an dem du sicher bist. Kossil würde dich töten oder mich zwingen, daß ich dich töte, Sperber. Hierher kann sie nicht kommen.«
Er sagte noch immer nichts.
»Du hättest die Gräber so oder so nie verlassen können, siehst du das nicht ein? Das hier ist nicht viel anders. Du bist wenigstens ans … ans Ende deiner Reise gelangt. Was du suchst, ist hier.«
Er setzte sich auf eine der großen Truhen. Er sah erschöpft aus. Die Kette, die er hinter sich herschleifte, schlug klirrend an den Stein. Er ließ den Blick über die grauen Wände schweifen, sah die Schatten und blickte dann sie an.
Sie wandte die Augen ab und schaute auf die Steintruhen. Sie hatte keine Lust, sie zu öffnen. Es war ihr gleichgültig, welche Schätze darin verrotteten.
»Hier drinnen brauchst du keine Ketten tragen.« Sie ging zu ihm hin, schloß den Eisengürtel auf und machte Manans Ledergürtel los, der seine Arme festgehalten hatte. »Ich muß die Tür verschließen, aber wenn ich komme, dann muß ich dir trauen können. Du weißt, daß du nicht fort kannst — daß du es nicht versuchen darfst! Ich bin ihre Priesterin, ich führe ihren Willen aus, und wenn ich versage — wenn du mein Vertrauen mißbrauchst —, dann rächen sie sich. Du darfst mir nicht weh tun oder mich betrügen, wenn ich komme, und versuchen, den Raum zu verlassen. Du mußt mir gehorchen.«
»Ich werde tun, was Sie sagen«, sagte er leise.
»Ich bringe dir Essen und Wasser, wenn ich kann. Es wird nicht viel sein. Genug Wasser, aber nicht viel zum Essen in der nächsten Zeit; ich werde selbst hungrig, weißt du. Aber es wird genug sein, um nicht zu verhungern. Vielleicht kann ich erst in zwei Tagen zurückkehren, vielleicht dauert es noch länger. Ich muß Kossil abschütteln, denn sie spioniert mir nach. Aber ich werde wiederkommen. Ich verspreche es dir. Hier ist Wasser. Teile es ein, ich kann nicht bald kommen. Aber ich werde zurückkommen.«
Er blickte auf und sah sie an. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinen Zügen. »Sei vorsichtig, Tenar«, sagte er.
Sie führte Manan durch die verschlungenen Gänge zurück zum Untergrab und ließ ihn dort im Dunkeln zurück, damit er das Grab schaufele, und Kossil, sollte sie danach fahnden, den Beweis finden würde, daß die Strafe an dem Gefangenen vollzogen worden war. Es war spät, und sie ging direkt zum Kleinhaus und legte sich zu Bett. Mitten in der Nacht wachte sie plötzlich auf; sie erinnerte sich, daß sie ihren Umhang im Bemalten Raum gelassen hatte. Er hatte nichts, was ihn in dieser unterirdischen, kalten Schatzkammer warm halten konnte, nur seinen eigenen kurzen Umhang; kein Bett, nur die staubigen Steine. »Ein kaltes Grab, ein kaltes Grab«, stöhnte sie im Halbschlaf, aber sie war zu erschöpft, um richtig aufzuwachen, und schlief bald wieder ein. Sie begann zu träumen. Sie träumte von den Seelen der Toten an den Wänden im Bemalten Raum, von den Gestalten, die wie große unförmige Vögel mit menschlichen Gesichtern, Händen und Füßen aussahen, die im Staub der dunklen, unterirdischen Stätten hockten. Sie konnten nicht fliegen. Sie fraßen Lehm und tranken Staub. Es waren die Seelen derer, die nicht wiedergeboren wurden, alter, längst verschollener Völker und Ungläubiger, die von den Namenlosen verzehrt worden waren. Sie hockten um sie herum, und manchmal vernahm sie ein schwaches Krächzen und Ächzen, das von ihnen ausging. Einer von ihnen kam immer näher. Sie hatte zuerst Angst und wollte sich zurückziehen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Er hatte kein menschliches, sondern ein Vogelgesicht. Aber sein Haar war golden und seine Stimme war die Stimme einer Frau und sie war warm und weich und sprach zu ihr: »Tenar, Tenar!«
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