»Ich dachte, ich hätte euch gesagt, mich nie hier anzurufen«, sagte ich kalt.
»Komm nach Hause«, sagte eine fremde Stimme. »Komm jetzt nach Hause! Du wirst für eine persönliche Einweisung in einen dringenden Auftrag gebraucht.«
Und das war es. Das Telefon ging aus, und ich steckte es langsam weg, während mein Verstand raste. Ein neuer Auftrag, jetzt schon? Das war noch nie da gewesen. Zwischen zwei Aufträgen war mir mindestens eine Woche zugesichert. Zu viel Arbeit im Felde, und man ist schnell ausgebrannt. Die Familie weiß das. Und weshalb musste ich nach Hause, um eingewiesen zu werden? Normalerweise schicken sie mir die für die Mission benötigten Informationen und Ausrüstung über einen toten Briefkasten, den ich regelmäßig wechsele. Dann gehe ich einfach los und tue, was immer zu tun ist, und gebe mir Mühe, dabei nicht zu sterben. Anschließend Bericht an Penny und dann untertauchen, bis ich wieder gebraucht werde. Die Familie und ich halten eine höfliche Distanz aufrecht, und genau so mag ich es auch.
Ich blickte finster in das, was von meinem Getränk noch übrig war. Der Anruf hatte mich schlagartig nüchtern werden lassen. Ich wollte wirklich nicht nach Hause gehen. Zurück zum Herrenhaus, dem uralten Heim der großen Drood-Familie. Ich hatte den Ort seit zehn Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Direkt nach meinem achtzehnten Geburtstag war ich weggegangen, zu unserer gegenseitigen Erleichterung, und die Familie schickte mir ein regelmäßiges und (leidlich) großzügiges Gehalt, das mir so lange garantiert war, wie ich weiter im Außendienst arbeitete. Sollte ich mich je dazu entscheiden, meine Laufbahn als Agent an den Nagel zu hängen, könnte ich entweder nach Hause gehen oder mich als Vogelfreien hetzen und töten lassen. Das verstand sich von selbst. Eine kurze Leine gestanden sie mir zu, aber das war alles. Ich war ein Drood.
Ich ging von zu Hause fort, weil ich die Last der Verpflichtungen und der Geschichte der Familie als mehr als nur ein bisschen erdrückend empfand, und sie ließen mich gehen, weil meine Haltung ihnen auf die Eier ging. Ich hielt mich über die Jahre hinweg beschäftigt, nahm Auftrag um Auftrag an, nur um zu vermeiden, wieder nach Hause zu müssen und mich der Familienautorität und den Familienvorschriften zu unterwerfen. Mir gefiel die Illusion, mein eigener Herr zu sein.
Aber wenn die Familie ruft, folgt man dem Ruf, wenn man weiß, was gut für einen ist. Ich würde wieder nach Hause gehen, verdammte Scheiße!
Morgen früh. Heute Nacht gehörte Silikon Lily …
Kapitel Vier
Da, wo das Herz ist, bin ich zu Hause
Die Sonne stand erst etwa eine Stunde am Himmel, als ich schließlich meine kleine gemütliche Wohnung verließ, die an einem umschlossenen Platz in einer der besseren Gegenden von Knightsbridge versteckt lag. Sie kostete pro Woche mehr Miete, als die Familie mir im Jahr schickte, aber ich habe dem Eigentümer einmal einen Gefallen getan, und seitdem übernimmt er die Kosten. Im Gegenzug lasse ich kein Sterbenswörtchen darüber verlauten, was genau der Sukkubus in dieser Wohnung gemacht hatte, bevor ich ihn exorzierte. (Es soll hier nur gesagt sein, dass ich das Bett verbrennen und die Wände mit einem Gemisch aus Weihwasser und Lysol abschrubben musste.) Den heller werdenden Himmel durchzogen noch tiefrote Streifen, die Vögel sangen sich die kleinen Herzen aus dem Leib - die lärmenden Drecksviecher -, und der Tag trug die frischen und durchdringenden Vorahnungen von Dingen in sich, die er noch bringen wollte.
Ich bin normalerweise kein Morgenmensch, aber es war eine wirklich gute Nacht gewesen, dank Silikon Lily. Mit einem Knistern sich entladender Tachyonen war sie vor ungefähr einer Stunde aus meinem Bett verschwunden und hatte mich mit der Erinnerung an ein Augenzwinkern und ein Lächeln und dem Duft ihres parfümierten Schweißes auf meinen Laken zurückgelassen. Verdammt, im dreiundzwanzigsten Jahrhundert verstehen sie es zu leben! Ich sog ein paar tiefe Züge frischer Morgenluft ein, gähnte plötzlich und strich über meine Bluejeans, mein weißes Hemd und meine abgenutzte schwarze Lederjacke. Gut genug für die Familie. Normalerweise halte ich nicht viel davon, zur selben Zeit wie alle anderen aufzustehen, wie Leute, die sich ihren Lebensunterhalt tatsächlich verdienen müssen, aber vor mir lag ein langer Tag. Ich sperrte die Garage unter meiner Wohnung mit einem Wort und einer Gebärde auf und fuhr meinen Wagen rückwärts auf den Kopfsteinpflasterhof heraus. Ich jagte den Motor hoch; er dröhnte fröhlich, und ich musste grinsen, als ich an die Köpfe dachte, die es in den Wohnungen rings um den Platz jäh aus den Kissen riss. Muss ich früh raus, muss jeder früh raus!
Ich fegte durch die nahezu leeren Straßen Londons, missachtete rote Ampeln und Geschwindigkeitsbegrenzungen und staunte über die vielen freien Parklücken. London direkt nach Tagesanbruch ist ein völlig anderer Ort. Ein paar Nachtschwärmer befanden sich noch torkelnd auf dem Nachhauseweg, umklammerten leere Champagnerflaschen und gelegentlich auch einen Leitkegel, und ich winkte ihnen im Vorüberfahren vergnügt zu. Wir Nachteulen müssen zusammenhalten.
Ich fuhr meinen Hirondel-Sportwagen, das taubenblaue Modell, das Faltdach heruntergeklappt, und der Wind zerzauste mir liebevoll die Haare, während ich aus London herausfuhr und das südwestliche Umland ansteuerte, nach Hause fuhr, um mit meiner Familie zusammenzutreffen. Ich hatte kaum Schlaf und nur ein überstürztes Frühstück aus Müsli, Milch und verbranntem Toast zu mir genommen, aber um einen Kater abzuwenden, geht nichts über eine Nacht mit richtig gutem Sex. Ich lenkte den Hirondel über die M4, durch ländliche Gegenden mit Wiesen und bestellten Feldern, und genoss die Fahrt, sang lautstark die Greatest Hits der Eurythmics aus dem CD-Spieler mit und überbrückte die hohen Töne, die ich nicht treffen konnte, mit einer zweiten Stimme. Diese Annie Lennox hat schon einen Mordsstimmumfang!
Der Hirondel ist ein 1930er-Modell, vollständig restauriert, er hat jedoch auch viele moderne Extras und einige außergewöhnliche Sonderausstattungen, dank des Waffenschmieds der Familie. Der fest daran glaubt, dass jedes Mitglied der Familie jederzeit auf einen feindlichen Angriff gefasst sein muss. Er glaubt auch daran, es anderen zuzufügen, bevor sie die Chance haben, es einem selbst zu tun. Als Ergebnis seiner äußerst inspirierten Arbeit können Geschwindigkeitsüberwachungskameras mich nicht sehen, mein Nummernschild ist Corps diplomatique, sodass die Bullen mich in Ruhe lassen, und jedes Auto, das den Fehler macht, zu nahe heranzukommen, kann plötzlich ernsthafte Probleme mit dem Motor bekommen. Für diejenigen, die darauf bestehen, zu nahe heranzukommen, habe ich vorn und achtern elektronische Bordkanonen, die pro Minute zweitausend Explosivnadelgeschosse abfeuern können, Flammenwerfer und einen EMP-Generator. Wenn Sie mich fragen, hat der Waffenschmied zu viele Spionagefilme gesehen. Ich ziehe es vor, mein Vertrauen darauf zu setzen, wie der Teufel zu fahren und meine Feinde meine Auspuffgase schlucken zu lassen.
In der Nähe von Bristol fuhr ich von der M4 ab, mittlerweile Leonard Cohens I'm Your Man mitsummend, und ließ die Hauptstraßen rasch hinter mir, während die Gegend immer ländlicher wurde. Ich lenkte den Wagen über immer schmalere Straßen, bis die viel befahrenen Routen ein gutes Stück hinter mir lagen und aus den Sträßchen bessere Feldwege wurden, die nicht mal mehr Markierungen oder Leuchtnägel in der Fahrbahnmitte aufwiesen. Die Morgenluft war klar und belebend, erfüllt vom Duft nach frisch gemähtem Gras und dem unverkennbaren Geruch, der die Anwesenheit von Kühen verrät: Der Südwesten ist Milchland. Kleine Marktflecken wichen noch kleineren Dörfern und Weilern, bis schließlich das Sträßchen, dem ich folgte, sich unvermittelt in einen unbefestigten Feldweg verlor, den schwere Landmaschinen tief aufgewühlt hatten. Ich fuhr weiter, langsamer jetzt, folgte einem gewundenen Weg durch dunkle und brütende Wälder, in deren allgemeine Düsternis sich goldene Speere von Sonnenlicht den Weg erzwangen wie Scheinwerferstrahlen voller tanzender Staubteilchen. Ich bremste stark ab, um dem Zusammenstoß mit einem Dachs von der Größe eines Schweins zu entgehen, der über den Weg wanderte und tatsächlich den Nerv hatte, mir einen bösen Blick zuzuwerfen, bevor er ins Unterholz wegtrippelte. Rotwild mit Augen, die in den Schatten funkelten, beobachtete mich still von den Seiten.
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