»Komm rein, Eddie, komm rein! Und mach die Tür hinter dir zu! Die Zugluft spielt meinen alten Knochen übel mit.«
Ich pflanzte mich neben seinem Stuhl auf, die Arme vor der Brust verschränkt. »Und was für Knochen sollen das sein, du widerlicher alter Wiedergänger?«
Er blickte unter buschigen weißen Augenbrauen heraus finster drein. »Werd erst mal so steinalt wie ich, Junge, dann wirst du auch deine Wehwehchen haben! Es ist nicht einfach, so alt zu sein. Sonst würde es ja auch jeder werden.«
»Wie kann dir was wehtun? Du bist tot. Du hast gar keinen eigentlichen Körper mehr.«
»Recht so! Reite nur darauf herum! Nur weil ich tot bin, heißt das noch lange nicht, dass ich keine Gefühle habe. So, wie die Familie mich dieser Tage behandelt, würde ich mich am liebsten im Grab herumdrehen!«
»Du bist eingeäschert worden, Jacob.«
»Na schön, dann werde ich mich eben in der Urne herumdrehen!« Mit einem Fingerschnippen stellte er den Ton seines gespenstischen Fernsehgeräts ab und drehte sich endlich um, um mir zuzulächeln. »Verdammt, es tut gut, dich wieder hier zu haben, Junge! Keiner aus der jetzigen Generation hat den Mumm, hier rauszukommen und mit mir zu reden. Wie lange ist es jetzt her, Eddie? Hier drin verliert man jegliches Zeitgefühl …«
»Zehn Jahre«, sagte ich.
Er nickte bedächtig. »Hast ganz schön zugenommen, Junge. Gute Kleidung, saumäßige Haltung, und du siehst aus, als ob du deinen Mann stehen könntest. Gereichst meinen Lehren zur Ehre. Aber was zum Teufel treibt dich wieder hierher, Eddie? Du hast doch das geschafft, was nicht mal mir gelungen ist: Du bist entkommen!«
»Die Familie hat mich heimgerufen«, sagte ich und gab mir alle Mühe, locker und unbeschwert zu klingen. »Irgendwie hatte ich gehofft, du könntest wissen, warum.«
Jacob rümpfte die Nase und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Eine Geisterpfeife erschien in seiner Hand; nachdenklich sog er am Mundstück und paffte dicke Ektoplasmawolken vor sich hin, die zur spinnwebenbehangenen Decke emporschwebten. »Hat nicht viel Sinn, mich zu fragen, Junge. In letzter Zeit hat sich die Familie mich noch mehr vom Leib gehalten als sonst. Natürlich hält mich das nicht davon ab, ein wachsames Auge auf sie zu haben …« Er grinste mich niederträchtig an. »Du willst den ganzen neuesten Klatsch und Tratsch, Eddie-Junge? Du willst wissen, wer wen übers Ohr haut, wer's an der Front mal wieder vermasselt hat und wer völlig bedröhnt zurückgekommen ist und mit dem Autogiro eine Bruchlandung auf dem Dach hingelegt hat?«
»Erzähl mir alles!«, forderte ich ihn auf. »Ich denke, ich muss alles wissen.«
Jacob winkte seine Pfeife fort, und sie löste sich in dahintreibende Ektoplasmafäden auf. Er setzte sich in seinem Sessel gerade und fixierte mich mit einem starren Blick aus seinen uralten Augen, der mich an der Stelle festnagelte, wo ich gerade stand. »Um es gleich zu sagen, es gibt eine neue Splittergruppe innerhalb der Familie. Findet 'ne Menge Unterstützung, besonders unter den Jüngeren. Im Grunde läuft es auf eine Lasst-uns-sie-erledigen-bevor-sie-uns-erledigen-Strategie hinaus. Diese neue Splittergruppe redet lauthals über die Vorzüge von Präventivschlägen und einer Null-Toleranz-Politik gegenüber allen bestätigten Bösewichtern: ›Schlagt euch nicht mehr mit Problemen rum, wenn welche auftauchen; hängt alles ohne Rücksicht auf Verluste den Bösen an, ob ihnen was zu beweisen ist oder nicht.‹«
»Wenn wir den offenen Kriegszustand erklären würden«, sagte ich langsam, »würden unsere Feinde sich einfach zusammenrotten, um sich gegen eine allgemeine Bedrohung zu schützen, und wir wären gewaltig in der Unterzahl. Wir haben nur deshalb so lange überlebt, weil wir die Vorteile von ›Teile und herrsche!‹ begriffen haben.«
Jacob zuckte die Schulter. »Die jungen Leute heutzutage - keine Geduld mehr. Betrachten nichts mehr auf weite Sicht. Für sie zählt nur noch sofortige Befriedigung. Für mich sind daran MTV und Videospiele schuld. Bis jetzt halten ältere und weisere Köpfe in der Familie die neue Fraktion fest in ihren Schranken, aber jeder spricht darüber … Auch dein Cousin William hat gestänkert, nur um reichlich gutes Filmmaterial für die Dokumentation zu bekommen, die er über die Familie macht. Auch wenn Gott allein weiß, wer die seiner Ansicht nach sehen soll. Könnte andererseits ein großer Hit werden, wenn man bedenkt, wie viele Leute The Osbournes angeschaut haben. ›Lernen Sie die Droods kennen: eine noch gestörtere Familie, nur weitaus gefährlicher‹ …
Die Matriarchin hat die Sicherheitsvorkehrungen um das Herrenhaus herum verschärft. Wieder einmal. Wahrscheinlich hast du die zusätzlichen Maßnahmen auf deinem Weg hierher bemerkt. Klar, mich können sie natürlich nicht draußen halten. Es ist schwer, Geheimnisse vor den Toten zu wahren: Wir sind natürliche Voyeure. Sollen wir mal einen Blick darauf werfen, was unsere geliebte Anführerin im Moment so vorhat?«
Er schnalzte mit den Fingern in Richtung des leeren Fernsehgeräts vor sich, und die alte Folge von Dark Shadows, die mit abgestelltem Ton gelaufen war, wurde von einem beeindruckend scharfen Bild der Familienmatriarchin in ihrem Arbeitszimmer ersetzt, die gerade mit ihrem Mann, Alistair, sprach. Er ging auf und ab und machte einen ausgesprochen besorgten Eindruck, wohingegen sie mit geradem Rücken auf ihrem Stuhl saß und eisige Ruhe und Würde ausstrahlte.
»Er wird bald hier sein«, sagte Alistair. »Was werden wir ihm sagen?«
»Wir werden ihm sagen, was er wissen muss, und nicht mehr«, sagte die Matriarchin. »So war es immer Familienbrauch.«
»Aber wenn er auch nur den leisesten Verdacht hegt …«
»Das wird er nicht.«
»Wir könnten ihm die Wahrheit sagen.« Alistair blieb stehen und blickte die Matriarchin direkt an. »Wir könnten an sein besseres Wesen appellieren. An seine Pflicht, an seine Liebe zur Familie …«
Die Matriarchin schnaubte verächtlich. »Sei kein Narr! Er ist viel zu gefährlich. Ich habe entschieden, was getan werden muss, und das ist alles, was dazu zu sagen ist. Ich habe immer verstanden, was für die Familie das Beste ist. Warte … jemand hört mit! Bist du das, Jacob?«
Sie drehte sich mit einem Ruck um und starrte uns durch den Bildschirm direkt an. Jacob gestikulierte rasch, und das Bild verschwand und machte einer alten Folge der Addams Family Platz.
»Hab dir ja gesagt, dass sie die Sicherheitsvorkehrungen verschärft hat«, sagte Jacob. »Was denkst du, worum es wohl gerade ging?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Aber die Sache gefällt mir nicht.«
»Irgendetwas ist im Busch«, orakelte Jacob dunkel. »Etwas, wovon die Matriarchin und ihr feiner innerer Zirkel nicht wollen, dass das Fußvolk es erfährt. Es liegt etwas in der Luft … Etwas Großes ist im Anmarsch. Ich kann es spüren, wie es sich wie Gewitterwolken in der Zukunft zusammenballt. Und wenn es schließlich losbricht, dann wird es etwas Ungeheuerliches sein … In jüngster Zeit hat es mehrere direkte Angriffe auf das Herrenhaus gegeben.«
»Augenblick mal!«, sagte ich überrascht. »Angriffe? Niemand hat mir irgendwas von irgendwelchen Angriffen erzählt! Was für Angriffe?«
»Mächtige Angriffe.« Jacob rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. »Selbst ich habe sie nicht kommen sehen, und das sieht mir gar nicht ähnlich. Natürlich kam nichts durch, aber die bloße Tatsache, dass jemand oder etwas sich zuversichtlich genug fühlte, einen direkten Angriff auf den Ort zu starten, an dem wir leben, spricht Bände. Zu meiner Zeit hätte das niemand gewagt. Wir hätten sie aufgespürt, ihnen die Seelen herausgerissen und sie an unsere Außenmauern genagelt. Aber heutzutage ist alles Politik - Übereinkünfte und Pakte und Burgfrieden. Die Familie ist nicht mehr das, was sie mal war … Ich weiß nicht, wieso sie dich zurückgerufen haben, Eddie, aber todsicher nicht, um dir einen Orden an die Brust zu heften. Halt die Augen auf, Junge!«
Читать дальше