Überall befanden sich Kameras. Klipp mußte nichts weiter tun, als ihre Genehmigung zum Aufschalten auf das System zu benutzen, und sie würde augenblicklich wissen, wo ihr Opfer sich gerade befand und in welche Richtung es lief. Was bedeutete, daß Beatrice Klipp unbedingt auf eine falsche Fährte locken mußte, bevor sie den Weg zur Zeremonie einschlagen konnte.
Die Ehrwürdige Mutter riß sich die Haube vom Kopf und benutzte sie, um den Schweiß von der Stirn zu wischen. Denk nach, verdammt! Wenn du deine Spuren verwischen willst…, dann verstecke dich in einer Menschenmenge! Und die nächstgelegene Menschenmenge befand sich in den Quartieren der Klone. Man hatte sie sicher nicht zu der Feier eingeladen. Also die Robe abstreifen und lange genug in der Menge untertauchen, um die Spur zu verwischen. Danach auf dem schnellsten Weg zur Zeremonie. Es konnte funktionieren. Vielleicht. Beatrice atmete tief durch und rannte weiter, und ihre Hoffnung wurde mit jedem Schritt kleiner und verzweifelter.
Investigator Klipp klinkte sich mit Hilfe ihres Komm-Implantats in das Sicherheitssystem der Fabrik, überging die Paßwortabfrage und suchte nach Anzeichen von Bewegung. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Klipp die Schwester entdeckt hatte, und noch ein paar mehr, bis sie herausgefunden hatte, in welche Richtung sie rannte. Klipp grinste schwach und hielt mühsam ihre Wut im Zaum. Die drei Jesuiten, die sie im Schlepptau hatte, brauchten nicht zu erfahren, daß eine Barmherzige Schwester einen Investigator beinahe bewußtlos geschlagen hatte. Selbst wenn der Investigator an einer degenerativen Nervenerkrankung litt. Klipps Kopf dröhnte noch immer von den beiden schweren Treffern, die sie hatte hinnehmen müssen, aber sie ignorierte den Schmerz. Es war nichts als Schmerz. Klipp würde sich ein ganzes Stück besser fühlen, wenn die Schwester erst leblos zu ihren Füßen lag. Sie funkelte die drei Jesuiten an, von denen einer recht wackelig auf den Beinen stand.
»Sie ist in Richtung der Klonquartiere unterwegs. Sie scheint nicht zu wissen, daß es nur zwei Zugänge gibt. Außerdem haben wir Glück, weil sie einen Umweg eingeschlagen hat. Ihr drei geht voraus und riegelt den gegenüberliegenden Eingang ab, und ich verfolge die Schwester und treibe sie quer durch die Quartiere auf Euch zu. Meint Ihr, daß Ihr sie diesmal aufhalten könnt, oder soll ich den Kardinal rufen, damit er Euch die Handchen hält, während Ihr Eure Arbeit erledigt?«
»Wir werden sie aufhalten«, antwortete der ranghöchste Jesuit entschlossen. »Wenn sie auch nur den Anschein erweckt, einen Trick zu versuchen, stechen wir sie nieder.«
»Das werdet Ihr nicht«, entgegnete Klipp. »Ihr werdet sie lediglich festhalten, bis ich eintreffe. Ich werde sie selbst töten.
Das ist die Sache eines Investigators. Kein Grund für die Kirche, stärker in die Geschichte verwickelt zu werden als unbedingt notwendig. Habt Ihr mich verstanden? Gut. Dann setzt Euch in Bewegung. Wenn sie vor Euch am anderen Ausgang ist, werde ich sehr böse mit Euch sein.«
Die drei Jesuiten warfen sich rasche Seitenblicke zu, bevor sie sich eiligst den Korridor hinab in Bewegung setzten. Selbst ein Jesuit besaß genügend Verstand, um sich von einem Investigator einschüchtern zu lassen. Klipp grinste schwach und machte sich auf den Weg zum Quartier der Klone. Die Beute saß in der Falle, auch wenn sie es noch nicht wußte. Jetzt blieb nur noch das Aufscheuchen und Stellen.
Die Jesuiten waren noch gar nicht weit gekommen, als ihr Anführer plötzlich stehenblieb und sich umblickte. Die anderen beiden verharrten ebenfalls, die Hände auf den Griffen der Schwerter an den Hüften. Der Korridor vor ihnen lag leer und still.
»Was ist los?« fragte der jüngste der drei. »Brauchst du schon wieder eine Pause? Investigator Klipp hat klar und deutlich gesagt…«
»Halt verdammt noch mal endlich die Klappe, und streng die Ohren an!« knurrte der ranghöchste Jesuit. »Ich glaube, ich habe etwas gehört.«
»So, glaubt Ihr also?« fragte Jakob Ohnesorg und trat hinter der Ecke hervor, an der die drei soeben vorbeigekommen waren. Der Anführer der Jesuiten wirbelte herum, das Schwert in der Hand. Ohnesorg trat ihm mit Wucht zwischen die Beine.
Der Jesuit brach zusammen wie vom Blitz getroffen, und Ohnesorg trat ihm gegen den Kopf. Die folgende Bewußtlosigkeit erschien dem Jesuiten beinahe wie eine Erleichterung. Ruby Reise schlug den jüngsten Jesuiten zu Boden, und Sturm hieb den verbliebenen von hinten nieder, während der arme Bursche noch immer versuchte herauszufinden, in welche Richtung er zuerst blicken sollte. Ruby blickte auf die drei bewußtlosen Gestalten herab und rümpfte hörbar die Nase.
»Jesuiten. Ich mochte sie schon in der Schule nicht, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Wir sollten sie töten und als allgemeine Warnung in Stücke schneiden.«
»Vielleicht später«, sagte Ohnesorg. »Im Augenblick benötigen wir ihre Roben, und ich will nicht, daß sie voller Blutflecken sind. Außerdem ist das eine gute Gelegenheit für dich, einmal Selbstkontrolle zu üben. Wir müssen diese Leute nicht töten. Wir benötigen lediglich ihre Kleider. Als Jesuiten verkleidet, können wir uns in der gesamten Fabrik frei bewegen und müssen uns keine Gedanken machen, wie wir die Sicherheitskameras umgehen.«
»Ich nehme an, du behauptest als nächstes, das alles geplant zu haben«, murrte Sturm säuerlich.
»Ich habe zumindest erwartet, daß ein derartiger Fall eintreten könnte«, erwiderte Ohnesorg leichthin. »Ich halte meine Pläne gerne flexibel. Zieht ihnen jetzt endlich diese Roben aus.«
Ruby und Alex grinsten Jakob an und machten sich gemeinsam daran, die Jesuiten ihrer Roben zu entledigen. Ein gewisses Hin und Her entstand, als sie herauszufinden versuchten, welche Robe wem am besten paßte. Keines der Kleidungsstücke war sonderlich bequem, aber schließlich trug jeder etwas, mit dem er leben konnte. Ruby blickte auf den noch immer bewußtlosen Anführer der Jesuiten herab und kicherte boshaft.
»Das also tragen sie unter ihren langen Gewändern. Das hat mich schon immer interessiert.«
»Ich muß schon sagen, es ist eine Weile her, daß ich Unterwäsche von solch verblüffender Farbe gesehen habe«, bemerkte Sturm. »Wo kriegt er nur die nötige Hilfe her, um die ganzen Schnüre zu binden?«
»Spar dir deine Witze für später auf«, sagte Ohnesorg. »Je früher wir die Klone befreien und nach draußen schaffen, desto besser. Die Agenten der Ausgestoßenen haben ihr Leben riskiert, um den Weg auszuarbeiten, den wir benutzen werden, und ich will nicht, daß ihre Mühe umsonst gewesen ist. Ruby, du hast die Karte; geh voraus.«
»Nein, ich hab’ sie nicht.«
»Ich habe die Karte«, sagte Sturm. »Gütiger Himmel, wie bist du nur je ohne mich zurechtgekommen, Jakob?«
Beatrice wußte zwar, wo die Klonquartiere lagen, aber sie war noch nie zuvor dort gewesen. Nur wenige Menschen gingen dorthin. Klone wurden strikt von normalen Menschen getrennt gehalten. Doch der Eingang war unverschlossen und unbewacht, beinahe, als würde Beatrice von ihnen erwartet. Oder von jemand anderem, wenn schon nicht den Klonen. Der Gedanke ließ sie erstarren, aber schließlich eilte sie weiter. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie konnte nirgendwo sonst hin.
Hinter den Barrieren und elektrischen Türen lag das spröde, funktionelle Gebiet der Klone. Beatrice hatte gedacht, sie wüßte aus den Geschichten von Klonpatienten und Rebellen, was sie erwartete, aber nichts davon hatte sie auf die Wirklichkeit vorbereiten können. Es gab keine Zimmer und keine Privatquartiere. Die Klone lebten in Stahlkäfigen und Pferchen, aufeinandergestapelt wie in einer großen Hühnerbatterie. Es gab keinen Zentimeter freien Raums außer dem schmalen Gang, durch den sie gerade marschierte. In der Luft lag der schwere, fast überwältigende Gestank dicht zusammengedrängter Körper. Beatrice war an den Gestank im Hospitalzelt gewöhnt, und trotzdem mußte sie gegen den Wunsch ankämpfen, eine Hand vor Nase und Mund zu legen.
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