Irgend jemand könnte dich hören.«
»Wer denn?« fragte Sturm. »Nach Jakobs Meisterplan ist niemand in der Nähe.«
»Es besteht immer die Möglichkeit, daß einer der Wachtposten sich nicht an die Regeln hält und irgendwo herumlungert, wo er nicht sein sollte«, entgegnete Ohnesorg. »Nur weil es ein wirklich ganz hervorragender Plan ist, bedeutet das noch lange nicht, daß es keine… Komplikationen geben kann. Haben dir meine Plane wirklich nie gefallen, Alex?«
»Kein verdammtes Stück. Sie waren immer unnötig kompliziert und extrem gefährlich, ganz besonders für die armen Burschen, die sie ausführen mußten.«
»Ich habe von meinen Leuten nie verlangt, etwas zu tun, was ich nicht auch selbst getan hätte, und das weißt du. Verdammt noch mal, ich führe diese verdeckten Operationen genausooft an wie nicht. Egal. Wenn meine Pläne so schlecht sind, warum hast du dich dann immer wieder freiwillig gemeldet, daran teilzunehmen?«
»Damals war ich ein junger Mann. Und du warst mein Freund.«
Ohnesorg blieb stehen und blickte zu Sturm. Ruby verharrte ebenfalls und trat instinktiv dicht neben Ohnesorg, während der Berufsrebell seinen alten Freund nachdenklich musterte. Sturm erwiderte den Blick beinahe trotzig. Das dämmrige Licht malte tiefe Schatten in sein Gesicht. Einen Augenblick lang dachte Ohnesorg, einer völlig fremden Person gegenüberzustehen, einer Person, die er nie zuvor gesehen hatte. Und in diesem Augenblick wurde ihm auch bewußt, daß Alexander ihn genauso wahrnahm.
»Ich war dein Freund?« sagte Ohnesorg langsam. »Soll das heißen, wir sind keine Freunde mehr?«
Sturm hielt seinem Blick stand. »Ich weiß es nicht. Ich dachte immer, ich würde dich verstehen, aber du hast dich verändert, Jakob. Sieh dich doch an. Du bist jünger, stärker und schneller geworden. Das ist unnatürlich. Ich kann nicht einmal mehr deinen Gedankengängen folgen. Was wird nur aus dir, Jakob?«
»Ich selbst«, entgegnete Ohnesorg. »Genau so, wie ich einst war. Ich bin wieder in den besten Jahren. Eine zweite Chance, die Dinge richtig zu machen. Es tut mir leid, Alex, ich bin wieder jung geworden, während du noch immer alt bist. Das ist alles, was dahintersteckt, nicht wahr? Ich bin wieder der strahlende Held von einst, und du bist allein zurückgeblieben. Aber das ändert noch lange nichts an meiner Freundschaft zu dir. Es bedeutet auch nicht, daß ich dich nicht mehr brauche. Nur die Art und Weise, wie ich dich brauche, hat sich geändert. Bleib bei mir, Alex. Bitte. Du erinnerst mich an das, was ich einmal war.«
»Und du erinnerst mich an das, was ich einmal war«, entgegnete Sturm. »An einen Mann, der ich nicht mehr bin. Mach weiter, Jakob. Du führst, und ich folge dir. Wie ich es immer getan habe.«
»O Gott, verschont mich!« rief Ruby. »Noch mehr von diesem sentimentalen Kameradengeschwätz, und ich muß kotzen!
Können wir nicht endlich weitergehen? Wir haben einen Zeitplan einzuhalten, oder habt ihr das vergessen?«
»Ruby, meine Liebe, du hast überhaupt kein Herz«, sagte Ohnesorg und wandte sich ab, um erneut die Führung zu übernehmen.
»Verdammt richtig«, stimmte Ruby ihm zu. »Ein Herz ist nur im Weg, wenn es um wichtige Dinge geht. Wie zum Beispiel Leute umbringen und Beute machen. Und jetzt setz endlich deinen alten Arsch in Bewegung, Sturm, sonst trete ich dir hinein, daß er dir zu den Ohren wieder herauskommt.«
Sturm schniefte indigniert und tat, wie ihm geheißen. »Eines Tages wirst auch du alt sein, mein Mädchen.«
»Das bezweifle ich stark«, erwiderte Ruby. »Und dein Mädchen bin ich schon lange nicht.«
»Das ist zumindest sicher«, sagte Ohnesorg.
Die Ehrwürdige Mutter Beatrice von den Barmherzigen Schwestern rannte über die Metallwüste. Ihre Robe flatterte im Wind. Beatrice kochte in der Sommerhitze bei lebendigem Leib, und das Atmen schmerzte in den überanstrengten Lungen, aber sie wagte nicht, langsamer zu werden. Investigator Klipp konnte nicht weit hinter ihr sein. An der Ostseite der Fabrik war ein Kampf entbrannt, wie es aussah, ein weiterer Angriff der Rebellen, und das bedeutete, daß sie nicht auf direktem Weg zur Zeremonie rennen konnte, wie ursprünglich geplant. Beatrice würde die Fabrik durch das kleinere Westtor betreten und sich einen Weg nach Osten und zur Zeremonie suchen müssen. Das war vielleicht sogar besser. Klipp würde sie früher oder später sicher eingeholt haben, aber im Wirrwarr der Maschinen und Gänge könnte Beatrice ihre Verfolgerin vielleicht abschütteln. Neue Kraft floß in ihre Beine, als sie nach Westen davonrannte.
Die meisten der Wachen waren verschwunden, entweder, um der Zeremonie beizuwohnen, oder dem Angriff der Rebellen zu begegnen, doch drei Jesuiten in dunklen Roben und übergezogenen Kapuzen bewachten den Eingang. Sie sahen dunkel und bedrohlich aus mit ihren Disruptorpistolen und Schwertern an den Hüften, aber Beatrice gab einen verdammten Dreck darauf.
Ein Investigator auf den Fersen half dem Verstand auf wunderbare Weise, sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren. Wie das leibhaftige Entsetzen es eben so an sich hat.
Beatrice kam stolpernd vor den Jesuiten zum Stehen und hob abwehrend die Hand, um ihren Fragen zuvorzukommen, während sie verzweifelt um Atem rang. Da die Jesuiten nicht im gleichen Augenblick auf sie zu schießen begonnen hatten, in dem sie Beatrice erkannt hatten, wußten sie höchstwahrscheinlich nichts von dem Exekutionsbefehl, der über sie verhängt worden war. Die Ehrwürdige Mutter konnte den Jesuiten nicht davon erzählen und dann noch auf ihren Schutz hoffen. Sie würden einfach annehmen, daß sie irgend etwas verbrochen hatte, wenn ein Investigator hinter ihr her war. Außerdem glaubten Jesuiten sowieso, daß jeder irgendeines Verbrechens schuldig war.
»Jemand ist hinter mir her«, erklärte Beatrice schließlich. »Es muß ein Rebell sein. Haltet ihn bitte eine Weile auf, während ich reingehe und Hilfe hole.«
»Nein«, entgegnete der ranghöchste Jesuit. »Wir haben unsere Befehle. Niemand betritt oder verläßt die Fabrik, solange der Schirm abgeschaltet ist. Ohne Ausnahme.«
»Aber er ist direkt hinter mir! Er wird mich töten!«
»Darüber hättet Ihr nachdenken sollen, bevor Ihr damit begonnen habt, Rebellen in Eurem Hospital zu behandeln«, sagte der Jesuit. »Was auch immer da vorgeht, ich zweifle keinen Augenblick daran, daß Ihr Euch die Suppe selbst eingebrockt habt. Wenn Ihr mögt, nehmen wir Euch in Schutzhaft. Ich bin sicher, wir finden eine hübsche Zelle für Euch, bis der Kardinal Zeit hat, Euch zu besuchen.«
»Zur Hölle!« schimpfte Beatrice. »Ich habe keine Zeit für diesen Mist!«
Beatrice trat dem Anführer der Jesuiten mitten zwischen die Beine und schwenkte den beiden anderen mit der zerbrochenen Flasche vor dem Gesicht herum. Die Gotteskrieger wichen instinktiv zurück, als der Ranghöchste mit einem tiefen Stöhnen zusammenbrach, und Beatrice schoß zwischen ihnen hindurch in die Fabrik. Sie rannte durch die Korridore und vertraute ganz auf ihre Erinnerung an die wenigen Male, die sie zuvor bereits hier gewesen war, um nach Medikamenten und Hilfe durch die Krankenabteilung der Fabrik zu betteln. Jetzt war es wichtiger als je zuvor, daß sie es bis zur Zeremonie schaffte. Mit drei wütenden Jesuiten und einem Investigator auf den Fersen lag der einzig sichere Ort der Welt im Aufnahmebereich von Toby Shrecks Kamera.
Beatrice rannte durch Korridor um Korridor, immer tiefer in die Anlage hinein, voller Furcht, nach hinten zu sehen. Ihre Verfolger würden keinen Schuß mit dem Disruptor im Innern der Fabrik riskieren; es gab zu viele Stellen, wo ein unglücklicher Querschläger wirklich bösen Schaden anrichten konnte.
Dann blieb Beatrice unvermittelt stehen, als ihr ein Gedanke kam. Die Anlage besaß ihr eigenes internes Sicherheitssystem.
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