Toby hatte versucht, durch Erwähnung der Bedeutung einer freien Presse und des Namens der Herrscherin doch noch sein Ziel zu erreichen, aber Klipp hatte ihn mit einem derartigen Blick angesehen, daß in Toby der spontane Entschluß herangereift war, doch lieber ganz rasch woandershin zu gehen, bevor Klipp Flynns neue Kamera packen und sie in eine von Tobys Körperöffnungen schieben konnte.
Lily und Michael lächelten in die Kamera, sobald sie in ihre Richtung wies, und hielten sich ansonsten unauffällig im Hintergrund. Die Versuchung, ständig auf die Uhr zu blicken, war für beide fast überwältigend, und sie neigten zu nervösen Zuckungen, wenn plötzliche laute Geräusche ertönten. Doch selbst ihre aufgeregte Erwartung konnte sie im Angesicht der Ansprachen nicht lange wach halten. Michael begann mit offenen Augen zu dösen, eine Kunst, die er zur Perfektion entwickelt hatte, während er zwangsweise langweiligen, endlosen Reden bei Hof hatte lauschen müssen. Er stand kurz davor, endgültig einzunicken, als Lily ihm plötzlich den Ellbogen in die Rippen stieß. Sein Kopf ruckte hoch, und er funkelte sie wütend an, während er sich die Seite rieb.
»Mach das nicht! Es tut weh!«
»Sei still, du großes Kind. Paß auf. Siehst du diesen Lakai mit dem Tablett voller Drinks?«
»Natürlich sehe ich ihn. Ich bin schließlich nicht blind.«
»Dann beobachte ihn weiter. Eins dieser Gläser, das mit den purpurnen Flecken im Schaum, ist für den lieben Daniel bestimmt, Und in diesem Glas befindet sich genug Gift, um ein ganzes Regiment von Nonnen umzubringen.«
»Bist du verrückt?« Köpfe fuhren herum und starrten Daniel an. Er erwiderte die Blicke mit einem kurzen, bedeutungslosen Lächeln, bevor er mit gesenkter Stimme fortfuhr. »Hast du den Verstand verloren, Lily? Du schaffst es noch, daß man uns beide exekutiert!«
»Beruhige dich, Michael. Ich weiß, was ich tue. Die Chojiros sind der Meinung, daß wir unsere Gatten nicht mit den Bomben in die Luft jagen dürfen, also mußte ich einen anderen Plan entwickeln. Das Gift ist nicht nachweisbar, wenn man nicht ganz genau weiß, wonach man suchen muß, und bis sie den Leichnam zu einem entsprechend ausgerüsteten pathologischen Labor geschickt haben, werden die letzten Spuren verschwunden sein. Der Kellner steht unter einem posthypnotischen Befehl. Ich habe dir gleich gesagt, daß meine Hexenkünste gelegen kommen würden. Der Lakai wird sich an nichts mehr erinnern, nachdem er Daniel das richtige Glas gereicht hat. Du siehst also, ich habe an alles gedacht.«
»Nicht ganz«, erwiderte Michael und kämpfte schwer gegen das Bedürfnis, Lily am Hals zu packen und zu würgen, bis ihre Augen hervorquollen. »Jeder wird wissen, daß wir es waren, weil wir die einzigen sind, die ein Motiv haben. Sie werden als erstes einen Esper kommen lassen, der in unsere Köpfe blickt, nur für den Fall!«
»Unsinn! Daniels Tod wird den Rebellen in die Schuhe geschoben werden. Genau wie alles andere, was hier geschehen wird. Und ich werde endlich frei sein. Wenn alles nach Plan verläuft, können wir den gleichen Trick später noch bei Stephanie versuchen.«
Michael war sprachlos. Er stand nur da und starrte wie betäubt auf den Kellner, der sein Tablett mit Drinks an den verschiedenen Gästen vorüber trug und es jedesmal unauffällig so drehte, daß sie stets das Glas nahmen, das ihnen gerade am nächsten stand und nicht das mit dem Gift darin. Lily grinste breit und drückte Michaels Arm mit beiden Händen… und erschrak um so mehr, als der Halbe Mann das Glas ignorierte, das ihm präsentiert wurde, und nach dem Glas mit dem Gift darin griff. Lilys Augen weiteten sich. Sie schlug die Hand vor den Mund, um die entsetzten Schreie zu ersticken. Michael dachte, er müßte auf der Stelle ohnmächtig werden. Daniel Wolf umzubringen war eine Sache. Aber den äußerst wichtigen und über hervorragende Beziehungen verfügenden Halben Mann zu töten war eine ganz andere. Die Imperatorin würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um den Verantwortlichen zu finden. Was mit einem gründlichen Verhör jedes einzelnen Anwesenden durch Esper anfangen würde. Und ›Verzeihung, es war ein Versehen‹ konnte ja wohl nicht als Ausrede oder Erklärung dienen. Doch es gab nichts, was die beiden hätten tun können. Sie konnten nichts sagen, ohne sich selbst zu verraten. Also standen sie nur hilflos da und beobachteten, wie der Halbe Mann das Glas an den halben Mund hob und einen tiefen Schluck trank.
»Wie lange dauert es, bis das Gift wirkt?« flüsterte Michael.
»Die Wirkung sollte augenblicklich einsetzen«, antwortete Lily genauso leise. »Ganz besonders, wenn man bedenkt, wieviel ich hineingetan habe. Ich bin überrascht, daß das Glas nicht geschmolzen ist.«
Der Halbe Mann leerte das Glas und gab es dem Kellner zurück. »Sehr gut«, hörten sie ihn sagen. »Gibt es noch mehr davon?«
Lily schüttelte ungläubig den Kopf, als der Kellner weiterging und Daniel ein harmloses Glas Wein brachte. »Ich glaube das einfach nicht«, sagte sie. »Der Halbe Mann trinkt nie. Jedermann weiß das.«
»Vielleicht war ihm nie zuvor so heiß«, entgegnete Michael.
»Mir geht es jedenfalls verdammt noch mal so.«
»Und warum kommt kein schwarzer Rauch aus seinen Ohren… seinem Ohr?«
Michael zuckte die Schultern. »Mir scheint, Gift steht ebenfalls auf der langen Liste von Dingen, die den Halben Mann nicht umbringen. Bleib mal vor mir stehen, ja? Ich brauche ein bißchen Deckung, weil ich kotzen muß.« Er unterbrach sich, als Lily erneut seinen Arm packte. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«
»Ich weiß es nicht. Irgend etwas Schlimmes passiert gleich.
Ich fühle es.«
»Lily…«
»Meine Hexenkräfte irren sich nie.«
»Natürlich passiert gleich etwas Schlimmes. Wir haben die Bomben gelegt, oder hast du das vergessen? Und jetzt halte verdammt noch mal endlich den Mund, bevor du unnötige Aufmerksamkeit auf uns lenkst. Und laß meinen Arm los. Ich spüre meine Finger nicht mehr.«
Lily zog eine Grimasse und wandte ihrem Liebhaber den Rücken zu. Michael seufzte dankbar. Die Ansprachen gingen weiter. Sie dauerten viel länger als geplant, wie Ansprachen das nun mal so an sich haben. Einige der Gefangenen und Mitglieder des Stabes der Fabrik verloren wegen der Hitze das Bewußtsein und wurden mit verschieden brutalen Methoden wieder zu sich gebracht, wenn die Kamera gerade nicht auf sie gerichtet war. Die Zeit verging. Eine Menge Leute hatte begonnen, unruhig auf die Uhren zu blicken. Toby zum Beispiel, während er hoffte, daß die Zuschauer nicht wegschalten würden, wenigstens bis zu den Exekutionen. Er runzelte unwillkürlich die Stirn. Er war nicht sicher, was er von der Sache halten sollte. Einerseits waren es ganz definitiv Rebellen, Kriminelle, aber andererseits waren die meisten Frauen und Kinder. Toby Shreck hatte in seinem Leben eine Menge fragwürdiger Dinge gutgeheißen. Das kam davon, wenn man für Gregor Shreck arbeitete. Aber die kaltblütige Ermordung von Kindern ging einen Schritt zu weit, selbst für jemanden wie Toby. Er hatte angestrengt nachgedacht, was er dagegen unternehmen könnte, und ihm schien, daß er nur eine einzige Chance hatte. Er mußte in der allerletzten Minute vor die Kamera treten und die Imperatorin direkt um Gnade für die Kinder anflehen. Die beobachtenden Milliarden würden es fressen, und Löwenstein würde vielleicht die Vorteile erkennen, die ein warmherziges, gütiges Auftreten in der Öffentlichkeit nach sich ziehen würde. Jedenfalls war es die einzige und letzte Hoffnung für die Kinder. Für die Frauen und die verletzten Männer konnte er nichts tun. Das Publikum wollte und mußte Blut sehen.
Und so blickten alle immer und immer wieder auf die Uhren und veranstalteten im Kopf wilde Rechnungen, während sie darauf warteten, daß die Zeit für die geplanten Überraschungen kam. Sie alle waren so mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, daß niemand die Gestalt von Investigator Klipp bemerkte, die leise von der Bildfläche verschwand, um eine geheime Mission auszuführen.
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