»Wir können uns selbst ernähren und kleiden, und wir nehmen uns aus der Oberwelt, was auch immer wir brauchen, aber es herrscht dennoch stets Mangel«, klagte die Gespenster-Alice. »Unser Leben besteht nicht aus Komfort. Wir werden in den Kampf hineingeboren und geben unsere Leben darin. Nur wenige von uns werden alt, es sei denn, sie sind verrückt wie ich. Wir sind in allererster Linie Kämpfer und sonst nichts.
Selbst in unseren tiefsten, am besten geschützten Verstecken gibt es nur wenig Zeit für Entspannung. Die Tunnel müssen gewartet, Nahrung muß gejagt und zubereitet und unser Territorium geschützt werden. Wir haben Schulen. Wir klinken uns in die Lektronen der Fabrik ein. Wir sind keine Barbaren, aber der Kampf kommt immer an erster Stelle. Wir wechseln uns ab in den Gräben und erdulden das Wetter an der Oberfläche. Ihr sagt, Ihr braucht unsere Hilfe, um die Produktion des neuen Antriebs zu verhindern. Dann schickt uns auch Energiewaffen und Kämpfer. Den Rest erledigen wir dann schon.«
Gespenster-Alice unterbrach sich, als Ruby Reise plötzlich stehenblieb. Alle anderen blieben ebenfalls stehen und blickten zu ihr zurück. Die Kopfgeldjägerin hatte sich nur wenig Mühe gegeben, ihre Langeweile zu verbergen, und sie war nur mitgekommen, weil Jakob Ohnesorg darauf bestanden hatte. Aber die säuerliche Leere war mit einemmal aus ihrem Gesicht gewichen. Sie blickte konzentriert geradeaus, die im blassen, hageren Gesicht groß erscheinenden Augen in unbestimmte Ferne gerichtet.
»Irgend jemand kommt«, sagte sie leise. »Eine große Streitmacht von oben.«
Sturm blickte sich rasch um. »Ich höre nichts.«
»Ich kann es spüren«, erwiderte Ruby. »Jakob?«
»Ja. Ich spüre es ebenfalls. Eine verdammt große Streitmacht ist nach hier unterwegs. Sie ist bereits in die oberen Tunnel vorgedrungen. Alice, schlagt Alarm. Ich habe den starken Verdacht, daß wir in ernsten Schwierigkeiten stecken. Ruby, du gehst voran.«
Sie rannte bereits, das Schwert in der Hand, bevor er zu Ende gesprochen hatte. Jakob stürzte hinter Ruby her und ließ Sturm zurück, der sich nach Kräften bemühte, Schritt zu halten. Bald schon strömten Ausgestoßene aus Seitentunnels hinzu, mit allen möglichen Arten von Waffen in den Händen. Es blieb keine Zeit oder Luft zum Reden. Es reichte vollkommen aus, daß die Tunnel angegriffen wurden. Alle wußten, was sie zu tun hatten.
Sie hatten ihr ganzes Leben für eine solche Situation geübt.
Schweigend rannten sie weiter, das einzige Geräusch das beständig anwachsende Donnern ihrer Stiefel auf dem stählernen Tunnelboden. Das Donnern wurde lauter, als mehr und mehr Ausgestoßene sich anschlossen und unerbittlich in Richtung der oberen Tunnel stürmten. Bis sie schließlich auf den Feind trafen, die Gläubigen, die sich einen blutigen Weg durch die zahlenmäßig unterlegenen Verteidiger bahnten. Die Ausgestoßenen heulten ihre Wut heraus und warfen sich auf die Kirchentruppen. Stahl hämmerte auf Stahl, Blut spritzte, und bald waren die Tunnel erfüllt vom Kampfgetümmel.
Die Gläubigen stürmten unablässig vor, schrien ihre Gesänge und Schlachtrufe hinaus, die Augen weit und wild in den gespannten Gesichtern. Die Kampfdrogen brannten in ihren Adern und feuerten sie an. Sie waren stärker als normale Menschen, unschlagbare Sendboten Gottes, die eine heilige Pflicht erfüllten. Der Sieg war unausweichlich. Sie krachten in die Reihen der Rebellen, schwangen Schwerter und Äxte, und ihre drogengeborene Kraft fegte die Waffen der Feinde beiseite. Es gab weder Zeit noch Raum für einzelne Duelle. Beide Seiten kämpften und fochten, wo sich in der wogenden, sich langsam über das große Labyrinth aus Gängen und Kavernen ausbreitenden Masse nur eine Gelegenheit bot. Klingen hoben und senkten sich, und Männer und Frauen fielen und wurden zu Tode getrampelt. Einige der Rebellen versuchten, mit den jüngsten Kindern die Flucht zu ergreifen, doch die Gläubigen schienen überall zu sein und blockierten mit gezogenen Schwertern jeden Fluchtweg. Und die Droge in ihnen kannte keine Gnade für Frauen oder Kinder. In allen Korridoren wurde gekämpft und geschrien, und Blut bespritzte Wände und Decken. Die Luft wurde heiß, stickig und drückend, und es stank nach Schweiß und Blut und aufgeschlitzten Gedärmen.
Ohnesorg und Ruby Reise kämpften einmal mehr Rücken an Rücken, umringt von Feinden, die sich wie bissige Hunde auf sie stürzten. Sturm war in der Woge aus Leibern abgedrängt worden. Ohnesorg fand nicht die Zeit, sich über das Schicksal seines alten Freundes Gedanken zu machen. Von allen Seiten stürmten die Gegner heran auf der Suche nach einer Lücke, einem Fehler in Jakobs Verteidigung, um ihn unter sich zu begraben. Er schwang das Schwert, so gut es in dem beengten Raum nur ging, legte all seine Kraft in die kurzen Hiebe und Streiche, und seine Feinde fielen zu Dutzenden. Doch es kamen ständig neue nach. Ohnesorg rief den Zorn herbei, das uralte Geheimnis des Todtsteltzer-Clans, das er im Labyrinth des Wahnsinns von Owen übernommen hatte, und am Rand seines Verstandes spürte er, wie auch Ruby in Zorn fiel. Neue Kräfte durchströmten beide, mehr als genug, um der chemischen Kraft der Droge zu begegnen, die so wild in den Adern der Gläubigen brannte.
Und ringsherum und in den Gängen darüber und darunter, in den zahlreichen Tunnels und Wohnquartieren und Kavernen der Rebellen kämpften Ausgestoßene und Gläubige gegeneinander und fielen, gleichwertige Gegner in Wut, Raserei und Entschlossenheit, unfähig vorzurücken, unfähig zu weichen, ganz egal, wie hoch der Preis in Blut und Tod war, den sie dafür zu zahlen hatten. Ganze Tunnel wurden von Toten und Sterbenden verstopft, und Männer und Frauen mußten über Leichenberge steigen, um zu ihren Feinden zu gelangen. Rebellen sahen ihre Familien sterben, Frauen und Kinder, ohne Erbarmen niedergestochen und erschlagen, und sie kämpften um so wilder. Wutschreie hallten mindestens genausooft durch die Gänge wie Schmerzensschreie, und der Lärm wurde ohrenbetäubend.
Ohnesorg und Ruby Reise kämpften weiter, an Ort und Stelle festgehalten von der schieren Anzahl ihrer Gegner. Es gab keinen Raum zum Ausweichen, und sie erlitten zahlreiche Wunden, während die Gläubigen fielen und immer neue anstürmten.
Ohnesorg kämpfte mit kalter, leidenschaftsloser Präzision. Er wußte, daß all seine neugefundene Jugend und Kraft und der Zorn zusammen ihn nicht davor bewahren würden, diesmal am Ende zu verlieren. Die Gläubigen waren einfach zu viele. Sie kämpften wie Berserker, achteten nicht auf die Wunden, die sie erlitten, oder ob sie lebten oder starben, solange nur der Feind vor ihnen fiel. Weitere Ausgestoßene strömten herbei, aus kilometerweit entfernten Gebieten, und am Ende würden sie genug sein, um den Kirchentruppen Einhalt zu gebieten und sie zu bezwingen, doch bis dahin wären viel zu viele Männer, Frauen und Kinder von den Gläubigen niedergemetzelt worden, und das Blut der Unschuldigen würde die Tunnelwände für immer beflecken.
Ohnesorg dämmerte allmählich die Erkenntnis, daß er sterben würde. Gefangen im beengten Raum der düsteren Tunnel, weit entfernt von Himmel, Sonne und offenem Land, und der Gedanke versetzte ihn in rasende Wut. Er hatte noch so viele Pläne gehabt, inspiriert von seiner zweiten Jugend, und so viel würde ungetan bleiben, weil er so sicher gewesen war, daß ihm noch genügend Zeit blieb, irgendwann in der Zukunft. Und jetzt war ihm die Zeit ausgegangen. Ohnesorg würde hier unten sterben, nicht weil er verzagte oder schwach war, sondern aus dem einfachen Grund, weil die Übermacht so erdrückend war.
Und Ruby… auch Ruby würde sterben. Dieser Gedanke versetzte Jakob wie kein anderer in beinahe besinnungslose Wut.
Er trauerte um den unzweifelhaften Verlust seines alten Freundes Alexander und die vergebliche Hoffnung der Rebellen von Technos III , aber am Ende war es der Gedanke an Ruby Reise, die tot und zerbrochen auf dem blutbesudelten Boden lag, der alles andere in seinem Schrei nach Rache und Vergeltung erstickte.
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