»Ja, ich bin müde«, gab Sophie zu. Während sie das sagte, wurde ihr bewusst, wie ausgelaugt sie sich wirklich fühlte. Sie konnte kaum noch die Augen offen halten. Und ein wenig hatte sie auch Angst vor dieser Müdigkeit – seit sie wusste, dass es die Magie des Ortes war, die ihr die Energie raubte.
»Wann können wir nach Hause?«, fragte Josh. Er bemühte sich zu verbergen, dass auch er völlig erschöpft war. In Wahrheit taten ihm alle Knochen weh, und er hatte das Gefühl, eine Erkältung zu bekommen.
Nicholas Flamel schnitt den Apfel auf und steckte ein Stück davon in den Mund. »Das wird leider noch etwas dauern.«
»Warum?«
Flamel seufzte. Er legt die steinerne Pfeilspitze und den Apfel beiseite und ließ seine Handflächen auf der Tischplatte ruhen. »Im Moment wissen weder Dee noch die Morrigan, wer ihr seid. Nur deshalb seid ihr und eure Eltern sicher.«
»Unsere Eltern ?«, fragte Sophie. Bei der Vorstellung, dass ihr Vater und ihre Mutter in Gefahr sein könnten, wurde ihr ganz übel. Josh war ebenfalls sichtlich bestürzt. Er presste die Lippen zu einer schmalen weißen Linie zusammen.
»Dee wird sehr sorgfältig vorgehen«, sagte Flamel. »Es geht um ein jahrtausendealtes Geheimnis, und da wird es ihm nicht genügen, euch umzubringen. Wenn er euch fände, würden alle, die ihr kennt oder mit denen ihr Kontakt hattet, einen Unfall haben. Ich vermute, dass selbst Bernices ›Kaffeetasse‹ nicht verschont bleiben würde. Vermutlich würde er sie bis auf die Grundmauern niederbrennen... einfach nur deshalb, weil du einmal dort gearbeitet hast. Vielleicht kommt Bernice bei dem Brand sogar ums Leben.«
Sophie war entsetzt. »Aber sie hat doch mit all dem überhaupt nichts zu tun!«
»Richtig, aber Dee weiß das nicht. Und es kümmert ihn auch nicht. Er hat zu lange mit den Dunklen zusammengearbeitet und sieht in den Humani inzwischen kaum mehr als Tiere.«
»Aber wir erzählen bestimmt niemandem, was wir gesehen haben …«, begann Josh. »Es würde uns ja ohnehin keiner glauben...«
»Und wenn wir es niemandem erzählen, wird es nie jemand erfahren«, ergänzte Sophie. »Wir werden nie ein Wort darüber verlieren. Dee wird uns nie finden.« Doch noch während sie das sagte, dämmerte ihr, dass es hoffnungslos war. Sie und Josh saßen wegen ihres Wissens um die Existenz des Codex genauso in der Falle wie seit Jahrhunderten Nicholas und Perenelle.
»Er würde euch finden«, sagte Flamel. Er wandte sich an Scathach: »Was meinst du, wie lange würden Dee oder seine Schergen brauchen, bis sie sie gefunden haben?«
»Nicht lange. Ein paar Stunden vielleicht. Die Ratten oder Vögel würden eure Spur aufnehmen und den Rest erledigt dann Dee.«
»Wer einmal mit Magie in Berührung kam, ist für immer verändert.« Flamel wedelte mit der rechten Hand und ein dünner blassgrüner Rauchfaden blieb in der Luft hängen. »Man erkennt euch am Geruch.« Er pustete den grünen Rauchfaden an, woraufhin der sich davonschlängelte und schließlich verschwand.
»Willst du damit sagen, dass wir riechen?«, fragte Josh.
Flamel nickte. »Ihr riecht nach schlafender Magie. Du hast eine Nase voll davon abbekommen, als Hekate euch berührt hat. Was habt ihr da gerochen?«
»Orangen«, erwiderte Josh,
»Vanille«, sagte Sophie.
»Und vorher, als Dee und ich miteinander gekämpft haben – wonach roch es da?«
»Pfefferminze und faule Eier«, antwortete Josh sofort.
»Jeder Magier hat seinen ganz eigenen Duft, fast wie ein magischer Fingerabdruck. Ihr müsst eure Sinne schärfen. Die Menschen nutzen sie nur zu einem ganz geringen Teil. Sie schauen kaum richtig hin, hören selten zu, riechen nichts und glauben, sie könnten nur mit der Haut spüren. Dafür reden sie. Und wie viel sie reden! Das ist ihr Ausgleich dafür, dass sie ihre Sinne nicht nutzen. Wenn ihr wieder in eurer Welt seid, werdet ihr erkennen können, ob Leute magische Energie besitzen, und sei es auch nur eine winzige Spur. Ihr werdet es riechen, vielleicht sogar schmecken, oder ihr seht es als Aura um ihre Körper.«
»Wie lang wird das anhalten?«, erkundigte sich Sophie neugierig. Sie nahm eine riesige Kirsche aus der Obstschale. »Geht es irgendwann wieder vorbei?«
Flamel schüttelte den Kopf. »Es geht nie vorbei. Im Gegenteil, es wird immer stärker. Wie schon gesagt: Von nun an wird nichts mehr so sein, wie es war.«
Josh lächelte müde. »Das hört sich aus deinem Mund wie etwas ganz Schlimmes an.« Er griff sich einen knackigen Apfel und biss hinein. Saft lief ihm übers Kinn und er wischte ihn mit dem Handrücken ab.
Flamel wollte etwas darauf erwidern, doch dann schaute er hoch und stand rasch auf. Auch Scathach erhob sich lautlos und geschmeidig. Sophie folgte ihrem Beispiel. Nur Josh blieb sitzen, bis seine Schwester ihm einen Schubs gab. Dann wandte sie sich der Göttin mit den drei Gesichtern zu.
Aber das war nicht Hekate.
Die Frau, die ihnen als Hekate vorgestellt worden war, war eine große, elegante Erscheinung mittleren Alters gewesen, mit stoppelkurzem weißem Haar und glatter, dunkler Haut. Diese Frau jetzt war älter, sehr viel älter. Eine Ähnlichkeit mit Hekate war da, woraus Sophie schloss, dass es sich um ihre Mutter oder Großmutter handeln musste. Die Frau, die vor ihnen stand, war zwar auch groß, ging aber gebückt und stützte sich auf einen kunstvoll geschnitzten schwarzen Stock, der mindestens so lang war wie Sophie groß. Das Gesicht der alten Frau schien nur noch aus feinen Fältchen zu bestehen, ihre Augen lagen tief in den Höhlen und glitzerten merkwürdig gelb. Sie war vollkommen kahl, sodass Sophie ein Tattoo mit den verschlungenen Linien auf ihrem Schädel erkennen konnte. Obwohl sie ein ähnliches Kleid trug wie Hekate vorher, schimmerte der metallisch wirkende Stoff jetzt bei jeder Bewegung rot und schwarz.
Sophie blinzelte, schloss die Augen und blinzelte wieder. Sie sah die Andeutung einer Aura. Es war, als dünste die Frau einen feinen weißen Nebel aus. Beim Gehen ließ sie kleine weiße Nebelschwaden hinter sich.
Ohne sich um die Anwesenden zu kümmern, ließ die alte Frau sich auf dem Stuhl direkt gegenüber von Nicholas Flamel nieder. Erst als sie saß, nahmen auch Flamel und Scathach ihre Plätze wieder ein. Sophie und Josh setzten sich ebenfalls, schauten von Nicholas zu der alten Frau und fragten sich, wer sie war und was sie hier gerade wieder erlebten.
Die Frau nahm einen der hölzernen Kelche vom Tisch, trank aber nicht. In dem Baumstamm hinter ihr bewegte sich etwas, und vier große, kräftige junge Männer erschienen mit Tabletts, die über und über mit Speisen beladen waren. Sie stellten sie auf dem Tisch ab und zogen sich dann schweigend zurück. Die Männer sahen sich so ähnlich, dass sie verwandt sein mussten, doch mit ihren Gesichtern stimmte etwas nicht. Die Stirn fiel schräg ab bis zu einem Wulst über den Augen, die Nase war kurz und breit, die Wangenknochen waren stark ausgeprägt und sie hatten ein fliehendes Kinn. Hinter schmalen Lippen waren gelbliche Zähne zu erkennen. Die Männer waren barfuß und mit bloßem Oberkörper erschienen. Sie trugen lediglich einen Lendenschurz aus Leder, auf den rechteckige Metallplättchen aufgenäht waren. Sie hatten krauses rotes Haar und auch Brust und Beine waren rot behaart.
Als Sophie merkte, dass sie sie anstarrte, wandte sie sich rasch ab. Die Männer sahen aus, als kämen sie aus einer fernen Urzeit … Und doch war da noch etwas anderes. Erneut wurde Sophies Blick von ihnen angezogen; sie konnte gar nicht anders, als die Männer anzuschauen. Dann fiel ihr auf, dass sie blaue Augen hatten, leuchtend blaue Augen, und dass in ihrem Blick eine überwältigende Intelligenz lag.
»Sie sind Torc Allta«, platzte Sophie heraus und zuckte zusammen, als ihr klar wurde, dass alle sie anstarrten. Sie hatte das gar nicht laut sagen wollen.
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