»Aber ich habe doch gar nichts gesagt!«, protestierte Josh. Hilfesuchend schaute er seine Schwester an, während er in Gedanken noch einmal das Gespräch mit der alten Frau durchging. »Ich habe sie lediglich darauf hingewiesen, dass ihre Tochter oder Enkeltochter versprochen hat, uns zu helfen.«
Scathach lachte leise. »Es gibt keine Tochter oder Enkeltochter. Die Frau, die du am Nachmittag gesehen hast, war Hekate. Die alte Frau von vorhin war ebenfalls Hekate, und morgen früh wirst du ein junges Mädchen kennenlernen, das gleichfalls Hekate ist.«
»Die Göttin mit den drei Gesichtern«, sagte Flamel. »Hekate ist dazu verdammt, mit dem Tag zu altern. Mädchen am Morgen, reife Frau am Nachmittag, Greisin am Abend. Sie ist sehr empfindlich, wenn es um ihr Alter geht.«
Josh schluckte. »Das wusste ich nicht...«
»Das konntest du auch nicht wissen. Nur dass deine Unwissenheit dich hätte umbringen können … oder Schlimmeres.«
»Aber was hast du mit dem Tisch gemacht?«, fragte Sophie. Der runde Tisch war in der Mitte gespalten und das Holz an den Rändern sah trocken und staubig aus.
»Eisen«, erwiderte Scatty, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Eine der überraschenden Nebenwirkungen dieses künstlich hergestellten Metalls«, erklärte Flamel, »ist seine Fähigkeit, auch den stärksten Zauber zu brechen. Im Grunde war es die Entdeckung des Eisens, die das Ende der Weltherrschaft des Älteren Geschlechts einläutete.« Er hielt die steinerne Speerspitze hoch. »Deshalb habe ich das hier benutzt. Das Ältere Geschlecht wird nervös, wenn es Eisen sieht.«
»Aber du trägst doch Eisen mit dir herum«, sagte Sophie zu Scatty.
»Ich bin aus der nächsten Generation – keine Erstgewesene wie Hekate. Ich kann bereits Eisen in meiner Nähe aushalten.«
Josh fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Er sah wieder die sirrenden grünen Lichtkugeln in Hekates Handflächen vor sich. »Als du gesagt hast, dass sie mich fast in grünen Schleim verwandelt hätte … da hast du das nicht ernst gemeint, oder?«
Scathach nickte. »Oh doch, in klebrigen grünen Glibberschleim. Ziemlich eklig. Und wie ich gehört habe, ist das Opfer noch eine Zeit lang bei Bewusstsein.« Sie schaute Flamel an.
»Ich erinnere mich eigentlich gar nicht, dass jemals jemand eine Erstgewesene beleidigt hätte und lebend davongekommen wäre. Du?«
Flamel erhob sich. »Hoffen wir, dass sie morgen früh nichts mehr davon weiß. Versucht jetzt zu schlafen«, sagte er zu den Zwillingen. »Morgen wird ein langer Tag.«
»Warum?«, fragten Sophie und Josh gleichzeitig.
»Weil ich morgen Hekate hoffentlich dazu bringen kann, dass sie eure schlafenden magischen Fähigkeiten weckt. Wenn ihr eine Chance haben wollt, die nächsten Tage zu überleben, dann muss ich euch ausbilden und Magier aus euch machen.«
N icholas Flamel sah Sophie und Josh nach, als sie hinter Scathach im Baum verschwanden. Erst als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, verrieten seine hellen Augen, wie beunruhigt er war. Das war knapp gewesen. Noch ein oder zwei Herzschläge länger, und Hekate hätte Josh in eine zähe Masse verwandelt und vernichtet. Nicholas musste die Zwillinge von ihr fernhalten, damit ihre Unwissenheit sie nicht noch einmal in Gefahr brachte.
Flamel stieg über den abgeknickten Ast hinunter zum Teich. Dort folgte er einem schmalen, ungepflasterten Weg. Es waren jede Menge Spuren in der Erde – Eberspuren, aber auch Spuren, die eher aussahen wie menschliche Fußabdrücke... Und wieder andere waren eine seltsame Mischung aus beidem. Flamel wusste, dass er nicht allein war, dass jeder seiner Schritte beobachtet wurde. Und er musste davon ausgehen, dass die Torc Allta noch die schwächsten von Hekates Wachen waren.
Er kauerte sich ans Ufer des Teichs, holte tief Luft und gönnte sich einen Augenblick der Entspannung. Man konnte mit Fug und Recht sagen, dass dies einer der ereignisreicheren Tage in seinem langen Leben war, und er war erschöpft.
Von dem Moment an, in dem Dee Perenelle und den Codex geraubt hatte und die Zwillinge aufgetaucht waren, hatte Flamel gewusst, dass sich eine der ersten Prophezeiungen, die er in Abrahams Buch gelesen hatte, erfüllen würde.
»Die zwei, die eins sind, und das eine, das alles ist.« Flamel wiederholte die Worte flüsternd.
Der Codex steckte voller rätselhafter Aussagen und unverständlicher Sätze. Bei den meisten ging es um die Vernichtung von Danu Talis, der alten Heimat des Älteren Geschlechts. Aber es gab auch eine Reihe von Prophezeiungen, die die Rückkehr der Erstgewesenen und die Vernichtung und Versklavung der Humani zum Thema hatten.
»Es wird eine Zeit kommen, in der das Buch dem Dunkel verfällt...«
Nun, das war eindeutig.
»... und der Diener der Königin sich mit der Krähe verbündet...«
Damit musste Dr. John Dee gemeint sein. Er war der persönliche Berater und Hofmagier von Königin Elizabeth gewesen. Und bei der Krähe handelte es sich natürlich um die Krähengöttin.
»Dann werden die Älteren aus den Schatten heraustreten …«
Flamel wusste, dass Dees Bemühungen, die Rückkehr der Dunklen Älteren vorzubereiten, langsam Früchte trugen. Unbestätigten Berichten zufolge hatten immer mehr Dunkle ihre Schattenreiche verlassen und begonnen, die Welt der Humani zu erkunden.
»... und der Unsterbliche muss die Sterblichen ausbilden. Auf dass die zwei, die eins sind, zu dem einen werden, das alles ist.«
Er, Nicholas Flamel, war der Unsterbliche aus der Prophezeiung, dessen war er sich sicher. Die Zwillinge – »die zwei, die eins sind« – mussten die Sterblichen sein, die ausgebildet werden mussten. Aber er hatte keine Ahnung, was der letzte Teil des Satzes zu bedeuten hatte: »… das eine, das alles ist.«
Die Umstände hatten die Zwillinge in seine Obhut gegeben, und er wollte dafür sorgen, dass ihnen nichts zustieß – jetzt erst recht, wo er davon ausging, dass sie dazu bestimmt waren, im Krieg gegen die Dunklen Älteren eine entscheidende Rolle zu spielen. Nicholas wusste, dass er ein sehr hohes Risiko eingegangen war, als er Josh und Sophie zu Hekate mitgenommen hatte – vor allem auch noch in Begleitung von Scathach. Die Feindschaft zwischen der Kriegerprinzessin und der Göttin war älter als die meisten Zivilisationen der Erde.
Hekate gehörte zu den gefährlichsten Erstgewesenen überhaupt und sie besaß neben vielem anderen eben auch die Fähigkeit, die magischen Kräfte zu wecken, die in anderen Lebewesen schlummerten. Doch Hekates Fluch, der sie im Lauf eines Tages altern, bei Sonnenuntergang sterben und am nächsten Morgen neu erstehen ließ, beeinflusste ihr Denken. Zuweilen geschah es, dass die ältere Hekate vergaß, was ihr jüngeres Selbst versprochen hatte. Flamel hoffte, dass er das Mädchen Hekate am Morgen noch einmal dazu überreden konnte, die außergewöhnlichen Kräfte der Zwillinge zu aktivieren.
Der Alchemyst wusste, dass jeder Mensch magische Fähigkeiten in sich trug – aber bei wenigen waren sie so stark wie bei den Zwillingen. Würden diese Kräfte erst einmal geweckt, dann würden sie schnell ins Unermessliche wachsen. Flamel würde all sein Wissen, das er sich innerhalb der letzten sechshundert Jahre angeeignet hatte, dazu brauchen, um diese Fähigkeiten in die richtigen Bahnen zu lenken. Er wollte die Zwillinge vor den gefährlichen Kräften, die in ihnen schlummerten, beschützen. Und er wollte sie nach und nach auf das vorbereiten, was die Zukunft bringen würde – was immer das war.
Flamel kauerte noch immer am Teich und starrte auf das grünlich gefärbte Wasser. Dicht unter der Oberfläche schwammen rote und weiße Koi, während von weiter unten menschenähnliche Gesichter mit großen, leeren Augen und Mündern voll nadelspitzer Zähne zu ihm aufschauten. Nicholas beschloss, seine Finger lieber nicht ins Wasser zu tauchen.
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