»Ich möchte lieber nicht wissen, was da gerade vorbeigegangen ist«, flüsterte Josh mit zittriger Stimme.
Sophie raunte Zustimmung. Ihr Bruder hatte die Führung übernommen, und sie folgte mit einem Schritt Abstand, eine Hand auf seiner Schulter. »Woher weißt du, wohin wir gehen müssen?«, flüsterte sie, den Mund dicht an seinem Ohr. Für sie sahen alle Zimmer gleich aus.
»Als wir hierherkamen, ist mir aufgefallen, dass die Wände und Decken dunkel waren. Dann sind wir die Flure hinuntergegangen und es wurde immer heller. Wir sind durch unterschiedlich getöntes Holz gegangen, wie durch die Jahresringe in einem Stamm. Wir brauchen nur den Korridor hinunterzugehen, der zum dunklen Holz führt.«
Sophie war beeindruckt. »Ganz schön clever.«
Josh schaute über die Schulter und grinste. »Ich hab schon immer gesagt, dass all die Videospiele keine totale Zeitverschwendung sind. Beim Irrgartenspiel kommt man nur wieder raus, wenn man auf Hinweise wie Muster an den Wänden achtet und sich merkt, wohin man gegangen ist, damit man zur Not wieder zurückgehen kann.« Er trat hinaus auf einen Flur. »Und wenn mich nicht alles täuscht, sollte der Ausgang... dort sein!«, sagte er triumphierend.
Die Zwillinge liefen über die freie Fläche vor dem riesigen Baumhaus und hielten auf den Weg durch den Wald zu, der sie zum Wagen führte. Obwohl es Nacht geworden war, hatten sie keine Probleme, zu sehen, wohin sie gingen. Der Mond hing hell und niedrig am Himmel, und ungewöhnlich viele Sterne leuchteten. Das und ein wirbelndes Band aus Silberstaub hoch oben verlieh der Nacht ein seltsames gräuliches Leuchten. Nur die Schatten waren pechschwarz.
Obwohl es nicht kalt war, fröstelte Sophie. Die Nacht fühlte sich irgendwie … verkehrt an. Josh zog sein Kapuzenshirt aus und legte es seiner Schwester über die Schultern. »Die Sterne sind anders«, murmelte sie. »So hell.« Sie legte den Kopf in den Nacken und versuchte, durch die Zweige des Baumhauses hinaufzuschauen in den Himmel. »Ich sehe den Großen Wagen nicht und der Polarstern ist auch nicht da.«
»Und gestern war kein Mond zu sehen«, ergänzte Josh und wies mit dem Kinn auf den riesigen gelblich weißen Mond, der sich gerade über die Baumwipfel schob. »Nicht in unserer Welt«, fügte er ernst hinzu.
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Sophie den Mond. Irgendetwas daran stimmte nicht. Sie versuchte, die ihr bekannten Krater zu erkennen, und spürte plötzlich, wie ihr Magen sich hob, als die Erkenntnis sie traf. Ihre Hand zitterte, als sie nach oben zeigte. »Das ist nicht unser Mond!«
Josh kniff die Augen zusammen, damit das Leuchten ihn nicht blendete. Dann sah er, was seine Schwester meinte. »Die Oberfläche ist... anders . Glatter. Wo sind all die Krater? Ich sehe weder Kepler noch Kopernikus und nicht einmal Tycho.«
»Josh«, sagte Sophie atemlos, »ich glaube, wir sehen den Nachthimmel, wie er vor Tausenden von Jahren war, vielleicht sogar vor Hunderttausenden von Jahren.«
Josh erschrak. Im Mondlicht sah Sophies Gesicht aus wie ein Totenschädel. Rasch schaute er wieder weg. Er hatte sich seiner Schwester immer sehr nah gefühlt, doch erst die letzten Stunden hatten ihm so richtig bewusst gemacht, wie viel sie ihm bedeutete.
»Hat Scathach nicht gesagt, Hekate hätte dieses Schattenreich erschaffen?«, fragte er. »Jede Wette, dass sie es nach der Welt gemacht hat, an die sie sich erinnerte.«
»Dann sind das tatsächlich der Nachthimmel und der Mond, wie sie vor Tausenden von Jahren waren«, stellte Sophie ehrfürchtig fest. Sie wünschte, sie hätte ihre Digitalkamera dabei, um das außergewöhnliche Bild des glatten Mondes einzufangen.
Die Zwillinge schauten beide nach oben, als ein Schatten über den Mond zuckte, ein Fleck, der ein Vogel hätte sein können – nur dass die Spannweite der Flügel zu groß war und kein Vogel einen solchen Schwanz hatte.
Josh nahm Sophies Hand und zog sie weiter zum Wagen. »Langsam hasse ich den Ort hier«, brummte er.
Der Geländewagen stand noch dort, wo sie ihn verlassen hatten, mitten auf dem Weg. Der Mond schickte gelbes Licht über die zerschrammte Windschutzscheibe. In der Helligkeit waren auch die Schäden am Blech bestens zu erkennen; die Beulen und Schrammen traten als scharfkantiges Relief hervor. Das Dach war von den Vogelschnäbeln mit Hunderten kleiner Löcher perforiert, der Scheibenwischer an der Rückscheibe baumelte nur noch an einem Stück Gummi und die beiden Seitenspiegel fehlten völlig.
Die Zwillinge betrachteten den SUV schweigend. Erst jetzt begriffen sie das volle Ausmaß der Vogelattacke. Sophie strich mit dem Finger über eine ganze Reihe von Kratzern in der Scheibe auf der Beifahrerseite. Diese knapp zwei Millimeter Glas waren alles gewesen, was sie vor den Schnäbeln und Klauen der Krähen geschützt hatte.
»Fahren wir.« Josh öffnete die Tür und setzte sich auf den Fahrersitz. Der Schlüssel steckte noch.
»Ich komme mir Nicholas und Scatty gegenüber ein wenig schäbig vor, wenn ich einfach so abhaue«, meinte Sophie, als sie auf ihrer Seite einstieg. Aber sie konnte wohl davon ausgehen, dass der unsterbliche Alchemyst und die Kriegerprinzessin besser dran waren ohne sie. Die beiden konnten sich bestens selbst verteidigen. Wenn sie etwas nicht brauchten, waren es zwei Teenager, die ihnen im Weg herumstanden.
»Wir entschuldigen uns bei ihnen, wenn wir sie wiedersehen«, sagte Josh. Insgeheim hoffte er allerdings, dass das niemals der Fall sein würde. Videospiele waren schön und gut. Wenn man getötet wurde, fing man einfach wieder von vorn an. In diesem Schattenreich allerdings gab es keine zweiten Chancen. Dafür aber wesentlich mehr Arten zu sterben.
»Du weißt, wie wir hier wegkommen?«, fragte Sophie.
»Klar.« Ihr Bruder grinste. Seine Zähne schimmerten weiß im Mondlicht. »Wir drehen um. Und wir halten nicht an, egal, was kommt.«
Er drehte den Schlüssel um. Sie hörten ein metallisches Klicken und ein leises Jaulen, das jedoch bald verstummte. Dann war Stille. Josh drehte den Schlüssel noch einmal um. Dieses Mal hörten sie nur das Klicken.
»Josh...?«, begann Sophie.
Es dauerte einen Augenblick, bis er wusste, was passiert war. »Die Batterie ist leer. Wahrscheinlich hat dieselbe Kraft sie erschöpft, die auch unsere Handys ausgepowert hat«, murmelte Josh. Er drehte sich um und schaute durch die Rückscheibe. »Pass auf, wir sind den Weg hier heruntergekommen, ohne rechts oder links abzubiegen. Lass es uns zu Fuß versuchen. Was meinst du?« Er wandte sich seiner Schwester zu, doch die sah ihn nicht an, sondern starrte durch die Windschutzscheibe. »Du hörst mir ja gar nicht zu.«
Sophie streckte die linke Hand aus und drehte sein Gesicht nach vorn. Er schaute, blinzelte, schluckte und drückte dann auf den Schalter für die Zentralverriegelung. »Und was jetzt?«
Direkt vor ihnen kauerte ein Lebewesen, das weder Schlange noch Vogel war, sondern irgendetwas dazwischen. Es war ungefähr so groß wie ein Erstklässler. Das Mondlicht tüpfelte den schlangenähnlichen Körper und drang schwach durch die aufgefalteten Fledermausflügel. Die zarten Knochen zeichneten sich dunkel ab. Die Klauenfüße hatten sich tief in den weichen Untergrund gegraben und ein langer Schwanz schlug hin und her. Doch das Merkwürdigste war der Kopf. Ein langer, schmaler Schädel, riesige runde Augen und ein Mund mit Hunderten von kleinen weißen Zähnen. Das Geschöpf legte den Kopf zuerst auf die eine, dann auf die andere Seite, dann riss es das Maul weit auf und klappte es wieder zu. Ein Hüpfer brachte es näher an den Wagen.
Hinter ihm bewegte sich etwas, und ein zweites Geschöpf, noch größer als das erste, landete. Es faltete die Flügel zusammen und stand aufrecht da, als es den länglichen Kopf Richtung Wagen drehte.
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