Und es war in Paris, im Jahr 1575, als er von der Existenz des Älteren Geschlechts erfuhr.
Er hatte spät in der Nacht in seinem kleinen Dachzimmer im Haus der Flamels noch gelesen, als ein Geschöpf wie aus einem Albtraum den Schornstein herunterrutsche und zwischen Holz- und Kohlestückchen auf den Kaminvorleger krabbelte. Bei dem Geschöpf handelte es sich um eine Chimäre aus dem alten Geschlecht der Ghule, welche die Kloaken und die Friedhöfe der meisten europäischen Städte heimsuchten. Das Geschöpf aus marmorartigem Fleisch und mit kohlschwarzen Augen ähnelte den in Stein gehauenen Dämonen, die die Kathedrale direkt gegenüber dem Flamel’schen Haus schmückten.
Die Chimäre sprach eine archaische Form des Griechischen und lud Dee zu einem Treffen auf dem Dach der Kathedrale ein. Dee erkannte schnell, dass er diese Einladung nicht ausschlagen konnte, und so folgte er dem Geschöpf hinaus in die Nacht. Es sprang in großen Sätzen davon, manchmal auf zwei, oft auf vier Beinen, und führte ihn durch immer schmaler werdende Gassen hinunter in die Kanalisation und schließlich durch eine verborgene Tür in die riesige Kathedrale hinein. Er folgte der Chimäre die 1001 in die Innenwand gehauenen Stufen hinauf zum Dach der gotischen Kathedrale.
»Warte«, hatte sie befohlen und danach geschwiegen.
Ihre Mission schien beendet. Sie ignorierte Dee und setzte sich auf die Brüstung, vornübergebeugt, die Flügel über den Schultern gefaltet, den Schwanz auf dem Rücken zusammengeringelt. Aus ihrer Stirn wuchsen kleine Hörnchen. Sie ließ den Blick über den Platz weit unten schweifen und verfolgte die Bewegungen der Nachtschwärmer und derjenigen, die kein Zuhause hatten – vermutlich auf der Suche nach einer geeigneten Mahlzeit. Hätte jemand zufällig von unten heraufgeschaut, er hätte die Chimäre nicht von den unzähligen Steinskulpturen an dem Gebäude unterscheiden können.
Dee trat an den Rand des Daches und schaute über die Stadt. Das nächtliche Paris lag weithin unter ihm ausgebreitet, Tausende winziger Lichter von Feuerstellen, Öllampen und Kerzen, deren Rauchfahnen pfeilgerade in die windstille Nacht aufstiegen. Der Teppich aus unzähligen Lichtpünktchen wurde von dem schwarzen, sich windenden Band der Seine durchschnitten. Dee hörte die Geräusche der Stadt – ein leises Dröhnen wie im Bienenstock, wenn die Tiere sich für die Nacht niederlassen – und er roch die übel stinkende Dunstwolke, die über den Straßen hing – eine Mischung aus Abwässern, faulendem Obst und verdorbenem Fleisch, menschlichen und tierischen Ausdünstungen und dem Gestank des Flusses selbst.
Dee kauerte über der berühmten Fensterrose der Kathedrale und wartete. Das Studium der Magie hatte ihn viel gelehrt – an erster Stelle Geduld. Der Gelehrte in ihm genoss es, auf dem Dach des höchsten Gebäudes von Paris zu stehen, und er wünschte, er hätte seinen Skizzenblock mitgebracht. So musste er sich damit zufriedengeben, sich umzuschauen und alles, was er sah, in seinem bemerkenswerten Gedächtnis abzuspeichern.
Ein Besuch vor nicht allzu langer Zeit in Florenz fiel ihm ein. Er war in die Stadt am Arno gereist, um die Tagebücher von Leonardo da Vinci zu studieren. Sie waren in einer merkwürdigen Geheimschrift verfasst, und bis jetzt war es noch niemandem gelungen, sie zu entschlüsseln. Er hatte es in einer knappen Stunde geschafft, nachdem er dahintergekommen war, dass Leonardo seine Tagebücher nicht nur verschlüsselt, sondern auch in Spiegelschrift geschrieben hatte. Sie waren voller erstaunlicher Zeichnungen für geplante Erfindungen: Gewehre, die in rascher Folge mehrere Schüsse abgeben konnten; eine gepanzerte Kutsche, die sich ohne Pferde fortbewegte, und ein Boot, das unter Wasser segeln konnte. Eine interessierte Dee jedoch ganz besonders: ein Gurtwerk, das es, wie da Vinci behauptete, dem Menschen ermöglichte, sich in die Lüfte zu erheben wie ein Vogel. Dee war nicht ganz davon überzeugt gewesen, dass der Entwurf funktionierte, aber er wünschte sich nichts sehnlicher, als zu fliegen. Als er jetzt so über Paris schaute, stellte er sich vor, wie es wäre, sich da Vincis Flügel umzuschnallen und hinauszusegeln über die Dächer.
Eine flüchtige Bewegung unterbrach seine Gedanken. Er wandte sich nach Norden, wo etwas über den Nachthimmel flog, ein schwarzer Schatten, der Dutzende kleinerer Punkte hinter sich herzog. Diese kleineren Punkte hätten Vögel sein können... Allerdings wusste er, dass Vögel nur sehr selten nachts flogen. Es gab für Dee keinen Zweifel, dass dies der Grund war, weshalb er hier heraufgeführt worden war. Er konzentrierte sich auf den größeren Schatten, der rasch näher kam, und versuchte zu erkennen, was da auf ihn zukam. Doch erst als die Gestalt auf dem Dach landete, sah er, dass es eine ganz in Schwarz gekleidete Frau mit aschfahlem Gesicht war, die einen langen Umhang aus schwarzen Federn trug.
In dieser Nacht traf Dr. John Dee zum ersten Mal die Morrigan. In dieser Nacht erfuhr er vom Älteren Geschlecht und dass es durch die Beschwörungen aus einem Buch von Abraham, dem Magier, gewaltsam von dieser Erde vertrieben worden war – und dass dieses Buch sich zur Zeit im Besitz von Nicholas Flamel befand. In dieser Nacht erfuhr Dee, dass es Mitglieder des Älteren Geschlechts, so genannte Dunkle, gab, die an ihren angestammten Platz als Beherrscher der Menschheit zurückkehren wollten. Und in dieser Nacht versprach die Krähengöttin Dee, er würde eines Tages die gesamte Welt regieren, wäre Herr über ein Reich, das sich von Pol zu Pol erstreckte, von Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang. Er bräuchte dafür lediglich das Buch zu stehlen und es ihr auszuhändigen.
In dieser Nacht wurde Dr. John Dee zum Verfechter der Sache der Dunklen Wesen des Älteren Geschlechts.
Diese Mission ließ ihn auf der ganzen Welt herumkommen und führte ihn auch in die vielen angrenzenden Schattenreiche. Er kämpfte gegen Geister und Ghule, gegen Wesen, die es außerhalb von Albträumen gar nicht geben dürfte, und gegen solche, die übrig geblieben waren aus einer Zeit vor der Ankunft der Humani. Er zog an der Spitze einer Geisterarmee in den Kampf und irrte mindestens ein Jahrzehnt lang in einer eisigen Anderswelt herum. Viele Male bangte er um seine Sicherheit, aber wirklich Angst hatte er nie … Bis zu diesem Moment, wo er im Los Angeles des 21. Jahrhunderts vor dem Eingang zu einem Anwesen in Bel Air wartete.
In der Anfangszeit war er sich gar nicht in vollem Umfang darüber klar gewesen, welche der Kräfte die Kreaturen besaßen, denen er diente. Doch fast viereinhalb Jahrhunderte in ihrem Dienst hatten ihn vieles gelehrt … Einschließlich der Tatsache, dass der Tod noch die geringste Strafe war, die sie ihm auferlegen konnten.
Der bewaffnete Wachmann trat zur Seite, und die hohen Eisentore öffneten sich mit einem Klicken, sodass Dees Wagen die lange, weiß geschotterte Zufahrt zu dem weitläufigen Marmorbau hinunterfahren konnte. Obwohl es Nacht geworden war, brannte kein Licht in dem Haus, und einen Augenblick lang dachte Dee, es sei keiner da. Dann fiel ihm wieder ein, dass die Person, die er hier treffen sollte – das Wesen -, die Nachtstunden bevorzugte und kein Licht brauchte.
Der Wagen fuhr auf den kreisrunden Platz vor dem Haupteingang, wo die Scheinwerfer auf drei Leute fielen, die auf der untersten Stufe der breiten Treppe standen. Als der Wagen auf dem weißen Schotter zum Stehen kam, trat eine Gestalt vor und öffnete die Wagentür. Es war in der Dunkelheit unmöglich, Einzelheiten auszumachen, aber die Stimme war männlich und sprach ihn zwar auf Englisch, aber mit einem starken Akzent an.
»Dr. Dee, nehme ich an. Ich bin Senuhet. Bitte kommen Sie herein, wir haben Sie erwartet.« Damit drehte die Gestalt sich um und ging die Treppe hinauf.
Dee stieg aus, strich seinen teuren Anzug glatt und folgte Senuhet ins Haus. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Die beiden anderen Gestalten gingen rechts und links von ihm. Niemand brauchte Dee zu sagen, dass es Wachen waren. Ob es sich um menschliche Wachen handelte, wusste er allerdings nicht.
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