»Vielleicht sind sie Vegetarier«, versuchte Josh, sich und seine Schwester zu beruhigen. Er beugte sich über den Fahrersitz nach hinten und suchte nach etwas, das er als Waffe benutzen konnte.
»Nicht bei dem Gebiss«, erwiderte Sophie grimmig. »Ich glaube, es sind Pterosaurier.« Sie erinnerte sich wieder an das große, von der Decke hängende Skelett, das sie im Naturkundemuseum in Texas gesehen hatte.
»Wie der Pterodaktylus?« Josh setzte sich wieder hin. Er hatte einen kleinen Feuerlöscher gefunden.
»Pterosaurier sind älter«, erklärte Sophie.
Ein dritter Pterosaurier schwebte vom Nachthimmel und wie drei gebeugte alte Männer kamen die Geschöpfe auf den Wagen zu.
»Wir hätten im Baum bleiben sollen«, murmelte Sophie. Sie waren schließlich gewarnt worden. Bleibt in euren Zimmern … Und nach allem, was sie bisher erlebt hatten, hätten sie sich ausmalen können, dass Hekates Schattenreich bei Nacht ein gefährliches, wenn nicht tödliches Gelände war. Jetzt hatten sie Wesen aus der Kreidezeit vor sich.
Josh öffnete den Mund, um etwas zu sagen, klappte ihn aber wieder zu. Er zog den Sicherungsstift aus dem Feuerlöscher; das Gerät war jetzt einsatzbereit. Er hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn er eine Ladung Schaum auf die Geschöpfe abfeuerte.
Die drei Schlangenvögel teilten sich auf: Einer näherte sich weiter direkt von vorn, die anderen hielten auf die Fahrer- bzw. Beifahrerseite zu.
»Jetzt sollten wir uns auf Magie verstehen!«, wünschte Sophie inbrünstig. Sie hatte das Gefühl, als überschlage sich ihr Herz, sie atmete flach und ihr war schwindelig.
Der größte der Pterosaurier beugte sich über die Kühlerhaube, dabei stützte er sich mit den Flügeln auf dem lädierten Metall ab. Der lange schlangenähnliche Kopf des Tieres ruckte nach vorn, und es schaute in den Wagen, zuerst auf Sophie, dann auf Josh, dann wieder auf Sophie. Aus dieser Nähe besehen war das Maul riesig, die Zahnreihen schienen endlos.
Josh drückte die Düse des Feuerlöschers an eines der vielen Löcher in der Windschutzscheibe und zielte auf den Pterosaurus. Sein Blick ging nach rechts und links, wo sich die anderen beiden näherten. Er schwitzte so stark an den Händen, dass er den Feuerlöscher kaum noch halten konnte.
»Josh!«, drängte Sophie. »Tu etwas. Jetzt! «
»Vielleicht verscheucht das Gas sie ja.« Unbewusst senkte Josh seine Stimme zu einem Flüstern. »Oder es vergiftet sie oder sonst etwas …«
» Und warum willst du so etwas tun? « Der Pterosaurus legte den Kopf schief und sah Josh an. Das Maul arbeitete, die Zähne blitzten. Er sprach abgehackt und mit vielen Schnalzlauten, aber eindeutig englisch. » Wir sind nicht eure Feinde. «
D as Haus war etwas ganz Besonderes, selbst für Bel Air, das Viertel in L.A., das für seine extravaganten Anwesen berühmt war. Riesig und weitläufig, ganz aus weißem Travertin gebaut und nur über eine Privatstraße zu erreichen, stand es auf einem vierundzwanzig Hektar großen Grundstück, das von einer dreieinhalb Meter hohen und mit einem elektrischen Zaun gekrönten Mauer umgeben war. Dr. John Dee musste zehn Minuten vor dem geschlossenen Tor warten, während ein bewaffneter Wachmann seine Identität überprüfte und ein anderer jeden Zentimeter des Wagens untersuchte und ihn sogar mit einer kleinen Kamera von unten abscannte. Dee war froh, dass er sich für einen kommerziellen Limousinenverleih mit menschlichem Fahrer entschieden hatte. Er war sich nicht sicher, was die Wachleute von einem Golem aus Lehm gehalten hätten.
Dee war am späten Nachmittag mit seinem Privatjet eingeflogen. Die Limousine, die sein Büro für ihn gebucht hatte, hatte ihn von Burbank abgeholt – jetzt hieß der Flughafen, wie er festgestellt hatte, Bob Hope Airport – und durch das schrecklichste Verkehrschaos, das er seit seiner Zeit im viktorianischen London erlebt hatte, zum Sunset Boulevard hinuntergefahren.
Zum ersten Mal in seinem langen Leben hatte Dee das Gefühl, als entglitten die Ereignisse seiner Kontrolle. Alles ging viel zu schnell und seiner Erfahrung nach passierten dann Unfälle. Leute – nun ja, genau genommen waren es keine Leute, sondern eher Wesen -, die zu schnell Ergebnisse sehen wollten, bedrängten ihn. Sie hatten ihn gezwungen, gegen Flamel vorzugehen, obwohl er ihnen gesagt hatte, dass er noch ein paar Tage Vorbereitungszeit bräuchte. Und er hatte recht behalten. Weitere vierundzwanzig Stunden, um zu beobachten und zu planen, und er hätte nicht nur Perenelle gehabt, sondern auch Nicholas. Und den gesamten Codex dazu. Dee hatte seine Auftraggeber gewarnt, dass Nicholas Flamel ein harter Brocken sei, aber sie hatten nicht auf ihn gehört. Dee kannte Flamel besser als irgendjemand sonst. Im Laufe der Jahrhunderte war er mehrmals nahe daran gewesen, ihn zu schnappen, sehr nahe daran, doch jedes Mal war es Flamel und Perenelle gelungen, ihm zu entwischen.
Er lehnte sich in dem klimatisierten Wagen zurück, während die Wachen mit ihrer Inspektion fortfuhren, und rief sich noch einmal seine erste Begegnung mit Nicholas Flamel, dem berühmten Alchemysten, ins Gedächtnis.
John Dee wurde 1527 geboren. Seine Welt war die von Elizabeth I. und er diente der Königin in vielen Funktionen: als Berater und Übersetzer, als Mathematiker und Astronom sowie als persönlicher Astrologe. Man überließ es ihm, Tag und Stunde ihrer Krönung festzulegen, und er wählte den 15. Januar 1559 um zwölf Uhr mittags. Er sagte der jungen Prinzessin eine lange Regentschaft vorher. Sie dauerte 45 Jahre.
Dr. John Dee war auch Spion der Königin.
Er spionierte für die englische Krone in ganz Europa und war ihr einflussreichster und mächtigster Agent auf dem Kontinent. Als berühmter Gelehrter und Naturwissenschaftler, Magier und Alchemyst war er an Königshöfen und in Adelspalästen ein gern gesehener Gast. Er gab vor, nur Englisch, Latein und Griechisch zu sprechen, obwohl er in Wirklichkeit ein Dutzend Sprachen beherrschte und noch mindestens ein weiteres Dutzend verstehen konnte, darunter sogar Arabisch und ein paar Brocken Kathay. Er hatte früh begriffen, dass die meisten Leute indiskret waren, wenn sie nicht wussten, dass er jedes Wort verstand, und er nutzte das schamlos aus. Seine vertraulichen und chiffrierten Berichte signierte er mit den Zahlen 007. Es hatte ihn königlich amüsiert, dass Ian Fleming, der mehrere hundert Jahre später James Bond erschuf, diesem den Codenamen 007 gab.
John Dee war einer der mächtigsten Magier seiner Zeit. Er beherrschte Totenbeschwörung und Zauberei, Astrologie und auch die Wahrsagekunst und das Sehen durch fremde Augen. Auf seinen Reisen durch Europa lernte er sämtliche großen Magier und Zauberer seiner Zeit kennen – einschließlich des legendären Nicholas Flamel, des Mannes, der als »der Alchemyst« bekannt war.
Dee erfuhr von der Existenz Nicholas Flamels – der angeblich 1418 gestorben war – rein zufällig. Seine Begegnung mit ihm prägte den Rest seines Lebens und auf vielerlei Weise die Weltgeschichte.
Nicholas und Perenelle waren im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts nach Paris zurückgekehrt und arbeiteten als Ärzte in genau dem Armenkrankenhaus, das sie hundert Jahre vorher selbst gegründet hatten. Sie lebten und arbeiteten buchstäblich im Schatten der großen Kathedrale von Nôtre Dame. Dee war in geheimer Mission für die Königin in Paris, doch ein Blick auf den schlanken dunkelhaarigen Mann und seine grünäugige Frau, die zusammen in den hohen Räumen des Krankenhauses arbeiteten, genügte, und er wusste, wen er vor sich hatte.
Dee gehörte damals zu den wenigen Menschen auf der Welt, die eine Ausgabe von Flamels Meisterwerk » Eine Zusammenfassung der Philosophie « besaßen. Auf der dem Innentitel gegenüberliegenden Seite war ein Stich des berühmten Alchemysten abgebildet. Als Dee sich bei dem Arzt und seiner Frau vorstellte und sie mit ihren richtigen Namen anredete, widersprachen sie nicht. Sie hatten natürlich auch schon von dem berühmten Dr. John Dee gehört. Perenelle hatte zwar Bedenken, doch Nicholas war hocherfreut, den englischen Magier in die Lehre zu nehmen. Dee zog sofort nach Paris und arbeitete die nächsten vier Jahre unter Nicholas und Perenelle.
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