Bastet machte einen Satz auf Dee zu und bohrte rasiermesserscharfe Krallen in sein teures Jackett. Die Seide riss sofort. »Ganz genau... Ich will ganz genau wissen, was meine Nichte gesagt hat«, verlangte sie.
»Du hast es doch gehört.« Dee schaute in das furchteinflößende Gesicht. Bastets Atem roch nach verzehrtem Fleisch. Er warf den blauweißen Lichtball in die Luft, wo er hängenblieb und sich drehte, und löste dann vorsichtig Bastets Klauen aus seiner Jacke. Die konnte er komplett vergessen.
»Die Morrigan will, dass du dich ihrem Angriff auf Hekates Schattenreich anschließt«, sagte Dee, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Dann ist es tatsächlich Zeit!«, rief Bastet triumphierend.
Der Magier nickte; mit jeder Bewegung huschten Schatten über die Wand. »Es ist Zeit«, stimmte er zu, »Zeit, dass das Ältere Geschlecht zurückkommt und diese Erde wieder in Besitz nimmt.«
Bastet stieß ein hohes, beängstigendes Heulen aus. Die Dunkelheit hinter ihr begann zu zucken, als Katzen jeder Rasse, Form und Größe in den Keller strömten und sich in einem immer größeren Kreis um sie herum aufstellten. »Es ist Zeit für die Jagd«, verkündete Bastet. »Zeit für die Fütterung.«
Die Katzen hoben den Kopf, miauten und jaulten. In Dees Ohren klang der Lärm entsetzlich, wie das Weinen zahlloser verzweifelter Babys.
S cathach erwartete Sophie und Josh an der offenen Tür des Baumhauses, als sie zurückkamen. Der große Pterosaurier hüpfte hinter ihnen her, während die anderen beiden über ihren Köpfen dahinsegelten; jeder Flügelschlag wirbelte Staub auf. Auch wenn kein Wort gefallen war, wussten die Zwillinge, dass sie sanft, aber bestimmt zum Haus zurückgebracht wurden.
Im Zwielicht war Scathachs Gesicht unnatürlich blass, das kurz geschorene rote Haar wirkte fast schwarz. Sie hatte die Lippen grimmig zusammengepresst, doch als sie sprach, versuchte sie, sich ihren Zorn nicht anmerken zu lassen.
»Wollt ihr wirklich hören, wie dumm und gefährlich das war?«
Josh wollte etwas sagen, doch Sophie fasste ihn am Arm, und er schwieg.
»Wir wollten nach Hause«, sagte sie müde. Sie wusste jetzt schon, was Scatty darauf antworten würde.
»Das geht nicht«, sagte Scathach denn auch und drehte sich um.
An der Tür zögerten die Zwillinge kurz und schauten noch einmal zurück zu dem Pterosaurier. Er legte seinen schmalen, langen Kopf schief und betrachtete sie mit seinen großen Augen mit den schmalen Pupillen. Sie hörten seine Stimme in ihrem Kopf: » Macht euch wegen Scathach nicht allzu viele Gedanken. Ihr wisst ja: Hunde, die bellen, beißen nicht. « Das Urzeitgeschöpf öffnete den Mund und ließ bei dem, was ein Lächeln hätte sein können, Hunderte spitzer Zähne sehen. » Ich glaube, sie hatte Angst um euch. « Damit drehte es sich um, machte ein paar Hopser und hob dann mit kräftigem Flügelschlag vom Boden ab.
»Sag nichts!«, warnte Sophie ihren Bruder. Joshs voreilige Bemerkungen und Kommentare brachten ihn regelmäßig in Schwierigkeiten. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der zu allem seinen Senf abgeben musste, hatte sie die Gabe, Dinge zu registrieren und dennoch den Mund zu halten.
»Du hat mir nichts zu befehlen«, schnaubte er, doch seine Stimme zitterte. Josh hatte Angst vor schlangenartigen Wesen, seit er mit seinem Vater beim Zelten einmal in das Nest einer Klapperschlange gefallen war. Zum Glück hatte die Schlange sich gerade satt gefressen und ihn ignoriert, sodass er weglaufen konnte. Noch Wochen danach hatte er Albträume gehabt – und er hatte sie auch heute noch gelegentlich, wenn er besonders im Stress war – vor allem vor Prüfungen.
Die großen schlangenähnlichen Pterosaurier sahen aus, als seien sie seinen allerschlimmsten Albträumen entsprungen, und als sie plötzlich aufgetaucht waren, hatte sein Herz so wild gehämmert, dass die Haut über seinem Brustkorb pulsiert hatte. Als das spitze Gesicht sich ihm zugeneigt hatte, wäre er fast in Ohnmacht gefallen. Selbst jetzt noch spürte er, wie ihm eiskalter Schweiß den Rücken hinunterlief.
Sophie und Josh folgten Scathach durch das Baumhaus. Jetzt bemerkten die Zwillinge, dass sich im Halbdunkel etwas rührte, dass Dielen unter Schritten knarrten, Holzwände sich dehnten und knackten, als sei das ganze Haus in Bewegung und wachse. Die Stimmen, die Rufe und Schreie von vorher waren allerdings verstummt, das fiel ihnen auch auf.
Scathach führte sie zu einem kahlen runden Raum, in dem Nicholas Flamel wartete. Er stand gegenüber der Tür am Fenster, hatte die Hände auf dem Rücken gefaltet und starrte hinaus in die Nacht. Das einzige Licht im Raum kam von dem riesigen Mond, der sich bereits wieder dem Horizont zuneigte. Eine Seite des Zimmers war in kaltes, silbrig weißes Licht getaucht, die andere lag im Dunkeln. Scatty trat neben Flamel. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich mit ausdrucksloser Miene den Zwillingen zu.
»Man hätte euch umbringen können«, sagte Flamel leise, ohne sich umzudrehen. »Oder schlimmer.«
»Ihr könnt uns hier nicht festhalten«, erwiderte Josh rasch. Seine Stimme klang zu laut in der Stille. »Wir sind keine Gefangenen.«
Der Alchemyst schaute über die Schulter. Er trug seine Brille mit den winzigen runden Gläsern und im Dämmerlicht waren seine Augen dahinter nicht zu sehen. »Nein, das seid ihr nicht.« Er flüsterte fast und sein französischer Akzent war plötzlich deutlich herauszuhören. »Aber ihr seid Gefangene der Umstände, der Fügung und des Zufalls... an was auch immer davon ihr glaubt.«
»Ich glaube nicht an Zufall«, murmelte Scathach.
»Ich auch nicht«, sagte Nicholas und drehte sich um. Er nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Er hatte dunkle Ringe unter den hellen Augen und die Lippen waren schmale Striche. »In gewisser Weise sind wir alle Gefangene hier – Gefangene der Ereignisse. Vor fast siebenhundert Jahren kaufte ich ein zerfleddertes Buch, das in einer unverständlichen Sprache geschrieben war. An diesem Tag wurde auch ich zum Gefangenen, ich war so in meiner Freiheit eingeschränkt, als säße ich hinter Gittern. Du, Josh, hättest mich nie wegen eines Sommerjobs fragen und du, Sophie, hättest nie in diesem Café arbeiten dürfen. Aber ihr habt es getan, und weil ihr diese Entscheidungen getroffen habt, steht ihr heute Nacht mit mir hier.« Er hielt inne und schaute Scathach an. »Natürlich gibt es genügend Philosophen, die behaupten würden, dass ihr vom Schicksal dazu bestimmt wart, die Jobs anzunehmen, Perenelle und mir zu begegnen und jetzt in diesem Abenteuer zu landen.«
Scathach nickte. »Schicksal.«
»Wollt ihr damit sagen, dass wir keinen freien Willen haben?«, fragte Sophie. »Dass das alles vorbestimmt war?« Sie schüttelte den Kopf. »Daran glaube ich nicht eine Sekunde lang.« Diese Vorstellung widersprach allem, wovon sie überzeugt war. Die Vorstellung, dass die Zukunft vorherbestimmt sein könnte, war einfach absurd.
»Ich auch nicht«, sagte Josh trotzig.
»Und was wäre«, begann Flamel leise, »wenn ich euch sagen würde, dass in Abrahams Buch der Magie – einem Buch, das vor über zehntausend Jahren geschrieben wurde – von euch die Rede ist?«
»Unmöglich!«, protestierte Josh. Was Nicholas da andeutete, machte ihm Angst.
»Ha!« Nicholas Flamel breitete die Arme aus. »Ist das nicht auch unmöglich? Heute Nacht seid ihr den Federnattern begegnet, den geflügelten Wächtern über Hekates Schattenreich. Ihr habt sie in eurem Kopf reden hören, gehe ich recht in dieser Annahme? Ist das nicht unmöglich? Und die Torc Allta – sind sie nicht genauso unmöglich?«
Weder Josh noch Sophie konnten das leugnen.
Nicholas trat zu ihnen und legte beiden eine Hand auf die Schulter. Er war genauso groß wie sie und schaute ihnen direkt in die Augen. »Ihr müsst akzeptieren, dass ihr in dieser unmöglichen Welt gefangen seid. Wenn ihr sie verlasst, bringt ihr Unglück über eure Familie und eure Freunde und aller Wahrscheinlichkeit nach euch selbst den Tod.«
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