»Außerdem ist es eure Bestimmung, dass ihr hier seid«, fügte Scathach grimmig hinzu, »wenn ihr in dem Buch erwähnt seid.«
Die Zwillinge schauten von ihr zu Flamel.
Der nickte. »Es stimmt. Das Buch ist voller Prophezeiungen – einige haben sich mit Sicherheit bereits erfüllt, andere werden noch in Erfüllung gehen. Aber es ist ausdrücklich die Rede von ›den zwei, die eins sind‹.«
»Und du glaubst...?«, wisperte Sophie.
»Ja. Ich glaube, damit könntet ihr gemeint sein. Ich bin sogar überzeugt davon.«
Scathach trat neben ihn. »Was bedeutet, dass ihr plötzlich von immenser Wichtigkeit seid – nicht nur für uns, sondern auch für Dee und die Dunklen Älteren.«
»Warum?« Josh fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Warum sind wir so wichtig?«
Der Alchemyst warf Scatty einen Hilfe suchenden Blick zu. Sie nickte. »Sag es ihnen. Sie müssen es wissen.«
Wieder schauten die Zwillinge von ihr zu Flamel. Sie spürten, dass das, was sie gleich erfahren würden, von ungeheurer Bedeutung war. Sophie schob ihre Hand in die ihres Bruders und der drückte sie.
»Der Codex prophezeit, dass die zwei, die eins sind, kommen werden, um die Welt entweder zu retten oder zu zerstören.«
»Was soll das heißen, entweder retten oder zerstören?«, fragte Josh. »Es kann nur das eine oder das andere sein, richtig?«
»Das Wort, das im Codex dafür steht, gleicht einem alten babylonischen Symbol, das beides bedeuten kann«, erklärte Flamel. »Ich persönlich habe immer vermutet, es bedeutet, dass einer von euch das Potenzial hat, die Welt zu retten, und der andere, sie zu vernichten.«
Sophie stieß ihren Bruder an. »Das bist bestimmt du.«
Flamel trat ein paar Schritte zurück. »Wenn Hekate in wenigen Stunden aufwacht, werde ich sie bitten, eure schlummernden magischen Kräfte zu wecken. Ich glaube, dass sie es tun wird. Ich hoffe es inständig«, fügte er hinzu. »Dann verlassen wir ihr Reich.«
»Wohin gehen wir?«, wollte Josh wissen, während Sophie gleichzeitig fragte: » Dürfen wir dann nicht mehr länger bleiben?«
»Ich hoffe, dass weitere Erstgewesene oder unsterbliche Menschen sich überreden lassen, mir bei eurer Ausbildung zu helfen. Und nein, wir können dann nicht mehr hier bleiben. Dee und die Morrigan haben mit einer der grausamsten unter den Erstgewesenen Kontakt aufgenommen: mit Bastet.«
»Die ägyptische Katzengöttin?«, fragte Sophie.
Flamel blinzelte überrascht. »Ich bin beeindruckt.«
»Unsere Eltern sind Archäologen, okay? Wenn andere Kinder Gutenachtgeschichten zu hören bekamen, haben unsere Eltern uns Legenden aus anderen Zeiten und Welten erzählt.«
Der Alchemyst nickte. »In dem Moment, in dem wir hier miteinander sprechen, sammeln Bastet und die Morrigan ihre Streitkräfte für einen Großangriff auf Hekates Schattenreich. Ich nahm an, dass sie in der Nacht angreifen, wenn Hekate schläft, aber noch weist nichts auf einen Angriff hin, und es dämmert bald. Ich bin sicher, sie wissen, dass es nur eine Chance für sie gibt und die Aufstellung der Kräfte hundertprozentig stimmen muss, bevor sie losschlagen. Im Moment gehen sie noch davon aus, dass wir nicht einmal ahnen, was sie vorhaben. Und noch wichtiger: Sie glauben, uns sei nicht bekannt, dass Bastet dabei ist. Aber wir sind vorbereitet.«
»Und woher wissen wir es?«, fragte Sophie.
»Perenelle hat es mir gesagt«, antwortete Flamel und fügte die Antwort auf die Frage, die als Nächstes kommen musste, gleich an: »Sie ist sehr einfallsreich und hat einen körperlosen Geist beauftragt, mir eine Nachricht zu überbringen.«
»Einen Geist?« Sophie merkte, dass es ihr gar nicht mehr so schwerfiel, an Geister zu glauben.
»Ganz genau.«
»Was wird passieren, wenn sie angreifen?«, erkundigte sich Josh. »Ich meine, mit welcher Art von Angriff müssen wir rechnen?«
Flamel schaute Scatty an. »Ich war noch nicht auf der Welt, als die Wesen des Älteren Geschlechts zuletzt gegeneinander Krieg führten.«
»Aber ich«, sagte Scatty düster. »Die überwiegende Mehrheit der Humani wird gar nicht mitbekommen, dass irgendetwas passiert.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber das Freiwerden magischer Energie in den Schattenreichen hat ganz sicher Auswirkungen auf Klima und Geologie in bestimmten Gebieten. Es kann Erdbeben geben, den einen oder anderen Tornado, Hurrikane und Regen, sintflutartigen Regen. Und ich hasse Regen«, fügte sie hinzu. »Regen war einer der Gründe, weshalb ich Hibernia verlassen habe.«
»Wir müssen doch etwas tun können«, sagte Sophie. »Die Leute warnen oder so.«
»Und wie sollte diese Warnung aussehen?«, fragte Flamel. »Willst du ihnen sagen, dass es zu einem außerweltlichen Kampf kommen wird, der zu Erdbeben und Überschwemmungen führen kann? Das ist nicht unbedingt das, was man der Zeitung oder der örtlichen Wetterstation mal eben am Telefon mitteilen kann, oder?«
»Wir müssen -«
»Nein, wir müssen nicht«, widersprach Flamel nachdrücklich. »Wir müssen nur eines: euch und die Seiten aus dem Buch hier wegbringen.«
»Und was ist mit Hekate?«, fragte Josh. »Kann sie sich verteidigen?«
»Gegen Dee und die Morrigan, ja«, antwortete Scatty. »Aber mit Bastet als Verbündeter... Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nicht, wie mächtig sie wirklich ist.«
»Mächtiger, als du es dir vorstellen kannst.«
Alle drehten sich zur Tür um, wo ein Mädchen stand und ausgiebig gähnte. Sie sah nicht älter aus als elf Jahre, rieb sich die gelben Augen, blickte in die Runde und lächelte dann. Die Zähne leuchteten weiß in dem kohlschwarzen Gesicht. Sie trug ein kurzes togaähnliches Kleid aus demselben irisierenden Stoff wie die greise Hekate, nur dass er jetzt in Gold- und Grüntönen schillerte. Das schneeweiße Haar fiel ihr in Locken auf die Schultern.
Flamel verbeugte sich. »Guten Morgen. Ich habe nicht gedacht, dass du vor dem Morgengrauen aufstehst.«
»Wie kann ich bei all den Unruhen hier schlafen? Das Haus hat mich geweckt.«
»Das Haus...«, begann Josh.
»Das Haus lebt«, bemerkte Hekate trocken.
Josh hatte jede Menge Kommentare auf der Zunge, doch der Gedanke an den grünen Schleim vom Vorabend veranlasste ihn, lieber den Mund zu halten.
»Wie ich gehört habe, planen die Morrigan und meine Erstgewesenen-Schwester Bastet einen Angriff auf mein Schattenreich«, sagte das Mädchen grimmig.
Nicholas warf Scathach einen verstohlenen Blick zu. Die zuckte kaum merklich mit den Schultern; sie hatte keine Ahnung, woher Hekate es wusste.
»Ihr seid euch sicher darüber im Klaren, dass ich alles höre, was in diesem Haus passiert, jedes Wort, das gesagt oder geflüstert – oder auch nur gedacht wird«, fügte Hekate mit Blick auf Josh hinzu. Wieder lächelte das Mädchen, doch in diesem Augenblick sah sie aus, als sei sie sehr viel älter. Das Lächeln bog ihre Mundwinkel nach oben, erreichte aber nicht ihre Augen.
Hekate trat weiter ins Zimmer, und Sophie fiel auf, dass das Haus auf ihre Anwesenheit reagierte. An der Stelle, wo sie gestanden hatte, schossen grüne Triebe aus dem Boden, und an Türsturz und Schwelle waren winzige grüne Knospen zu sehen. Die Göttin mit den drei Gesichtern blieb vor Nicholas Flamel stehen und schaute in sein sorgenvolles Gesicht. »Es wäre mir lieber gewesen, du wärst nicht hierhergekommen. Es wäre mir lieber gewesen, du hättest mich mit all dem verschont. Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich nicht gegen meine Schwester und meine Nichte Krieg führen müsste. Und es wäre mir ganz gewiss lieber, nicht Partei ergreifen zu müssen.«
Scathach verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete die Erstgewesene abschätzig. »Du hast noch nie gern Partei ergriffen, Hekate – kein Wunder, dass du drei Gesichter hast.«
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