Hekate drehte sich zu ihm um. Sie war in der kurzen Zeit, in der sie über den Flur gelaufen war, gealtert und sah jetzt schon aus wie ungefähr fünfzehn. Sie hatte das Gesicht zu einer Grimasse verzogen und die gelben Augen blitzten voller Zorn. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden!« Sie hob drohend die Hand. »Du weißt, was ich mit dir machen kann.«
»Du würdest es nicht wagen«, erwiderte Flamel in einer Ruhe, die er nicht in sich spürte.
»Und warum nicht?«, fragte Hekate überrascht. Sie war es nicht gewohnt, dass man ihr widersprach.
»Weil ich der Hüter des Buches bin.«
»Das du nicht mehr hast...«
»Ich bin der Hüter, der in den Prophezeiungen Abrahams erwähnt ist, der vorletzte Hüter. Und die Zwillinge sind ebenfalls im Buch erwähnt. Du sagst, du kanntest Abraham – dann weißt du auch, wie zutreffend seine Vorhersagen waren.«
»Er hat sich oft getäuscht«, murmelte Hekate.
»Als Hüter des Buches bitte ich dich um etwas, das, wie ich glaube, nicht nur das Überleben des Älteren Geschlechts sichern kann, sondern auch das der Humani. Ich möchte, dass du die schlafenden magischen Kräfte der Zwillinge weckst.«
»Es könnte sie umbringen«, sagte die Göttin noch einmal.
»Die Möglichkeit besteht«, gab Flamel zu und spürte, wie sich in seinem Magen ein Eisklotz bildete, »aber wenn du uns nicht hilfst, sterben sie mit Sicherheit.«
Hekate drehte sich um und ging zum Fenster. Auf dem abschüssigen Rasen demonstrierte Scathach für die Zwillinge ein paar Bewegungsabläufe, die die Geschwister fließend nachmachten.
Flamel trat neben Hekate. »Was ist das für eine Welt, in der wir leben«, bemerkte er seufzend, »wenn alles – möglicherweise sogar das Fortbestehen der menschlichen Rasse – auf den Schultern von zwei Teenagern liegt.«
»Du weißt, warum die Humani triumphierten und das Ältere Geschlecht schließlich vertrieben wurde?«, fragte Hekate unvermittelt.
»Wegen des Eisens, oder?«
»Ja, wegen des Eisens. Wir haben den Untergang von Danu Talis überlebt, die Sintflut und die Eiszeit. Und dann begann vor etwa dreitausend Jahren ein einzelner Mensch, der mit Bronze gearbeitet hatte, mit dem neuen Metall zu experimentieren. Es war nur einer – und doch schaffte er es, eine gesamte hochstehende Lebensform auszulöschen. Große Veränderungen gehen immer auf das Handeln Einzelner zurück.« Hekate schwieg und beobachtete die Zwillinge, wie sie neben Scathach Armstöße und Fußtritte übten. »Silber und Gold, die seltensten Aurafarben überhaupt«, murmelte sie schließlich, und einen Herzschlag lang leuchteten die Auren der Zwillinge auf. »Wenn ich es tue und es bringt sie um, wirst du damit leben können?«
»Ich bin alt, so alt«, sagte Nicholas leise. »Kannst du dir vorstellen, wie viele Freunde ich im Lauf der Jahrhunderte verloren habe?«
»Und – hast du es als Verlust empfunden?« In Hekates Ton lag eine Spur echter Neugier.
»Bei jedem Einzelnen.«
»Empfindest du es immer noch so?«
»Ja. Jeden Tag.«
Die Göttin legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Dann bist du immer noch ein Mensch, Nicholas Flamel. An dem Tag, an dem du aufhörst, Mitgefühl zu empfinden, wirst du wie Dee und seinesgleichen.«
Sie schaute wieder hinaus auf den Garten und beobachtete die Zwillinge. Die versuchten beide – und beide vergeblich -, Scathach mit Armstößen oder Tritten zu treffen. Die Kriegerin duckte sich und wich aus, ohne sich wirklich von der Stelle zu rühren. Aus der Entfernung sahen die drei Gestalten aus wie gewöhnliche Teenager, die eine neue Übung einstudierten, doch Hekate wusste, dass keiner der drei auch nur ansatzweise gewöhnlich war.
»Ich werde es tun«, sagte sie schließlich. »Ich wecke ihre Kräfte. Alles andere ist deine Sache. Ausbilden musst du sie.«
Flamel senkte den Kopf, damit sie nicht sah, dass seine Augen sich mit Tränen füllten. Wenn die Zwillinge das Erwecken ihrer Kräfte überlebten, gab es eine Chance, wenn auch eine geringe, dass er Perenelle wiedersah. »Wie war das -«, begann er und hüstelte, um den Kloß im Hals loszuwerden, »mit dem Mann, der entdeckte, wie man Eisen herstellt – dieser Schmied von vor dreitausend Jahren? Was ist mit ihm passiert?«
»Ich habe ihn getötet.« Hekate schaute Flamel mit großen, unschuldigen Augen an. »Was er tat, hat uns vernichtet. Was hätte ich sonst machen sollen? Aber es war zu spät. Das Geheimnis der Eisenherstellung war bereits gelüftet und in der Welt.«
Flamel blickte hinunter zu den Zwillingen, sah, wie Josh seine Schwester auf die Beine zog, sah, wie sie ihren Fuß in seinen hakte und ihn zu Fall brachte. Ihr Lachen hing hell und klar in der Luft. Er betete, dass es dieses Mal nicht zu spät war.
D ie Katzen von San Francisco verließen die Stadt mitten in der Nacht.
Einzeln und zu zweit, wilde, narbenübersäte Straßenkatzen, dicke Hauskatzen mit glänzendem Fell, Katzen in allen Größen, reinrassige und Mischlinge, langhaarige und kurzhaarige wälzten sich in einem langen Zug lautlos durch die Stadt. Sie wogten über Brücken, spülten dicht gedrängt durch enge Gassen, liefen durch Kanäle unter den Straßen, sprangen über Dächer.
Alle waren sie auf dem Weg nach Norden.
Sie schossen an erschrockenen Nachtschwärmern vorbei, erspähten Ratten und Mäuse, ohne anzuhalten, ignorierten Vogelnester. Und obwohl sie sich vollkommen lautlos bewegten, war ihr Zug von einem ungewöhnlichen Geräusch begleitet.
In dieser Nacht war die Stadt San Francisco erfüllt vom Heulen von Hunderttausenden von Hunden.
Dr. John Dee war nicht glücklich.
Und er hatte ein ganz klein wenig Angst. Es war eine Sache, über den Angriff auf Hekate in ihrem Schattenreich zu reden, und eine ganz andere, am Eingang zu ihrem unsichtbaren Königreich zu sitzen und die Ankunft der Vögel und Katzen zu beobachten, die von ihrer jeweiligen Herrin, der Morrigan und Bastet, gerufen worden waren. Was konnten so kleine Tiere schon ausrichten gegen die urgewaltige Magie Hekates, einer Erstgewesenen?
Dee saß in einem Hummer-Geländewagen neben Senuhet, Bastets Diener. Sie hatten kein Wort gesprochen auf dem kurzen Flug in Dees Privatjet von L.A. nach San Francisco, obwohl es tausend Fragen gab, die Dee dem älteren Mann gern gestellt hätte. Im Laufe der Jahre hatte er jedoch festgestellt, dass die Diener der Dunklen – zu denen er selbst gehörte – es nicht mochten, wenn man sie ausfragte.
Sie hatten den Eingang zu Hekates Schattenreich zwei Stunden nach Mitternacht erreicht, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die ersten von Morrigan einbestellten Vögel eintrafen. In langen, dunklen Schwärmen kamen sie von Norden und Osten angeflogen. Man hörte nur das Schlagen der Flügel. Sie ließen sich in solchen Mengen in den Bäumen von Mill Valley nieder, dass einige Äste unter ihrem Gewicht brachen.
Innerhalb der nächsten paar Stunden kamen auch die Katzen. Sie wälzten sich in einem nicht enden wollenden Strom aus der Dunkelheit und blieben dann vor dem verborgenen Eingang zum Schattenreich stehen. Dee schaute aus dem Wagenfenster. Er sah den Boden nicht mehr. Der war, so weit das Auge reichte, bedeckt mit Katzen.
Dann endlich, als der Horizont im Osten sich lachsrot färbte, holte Senuhet eine kleine schwarze Statue aus einem Beutel, den er um den Hals trug, und stellte sie aufs Armaturenbrett. Es war eine wunderschön geschnitzte ägyptische Katze, nicht größer als sein kleiner Finger. »Es ist Zeit«, sagte er leise.
Die Augen der schwarzen Statue begannen rot zu leuchten.
»Sie kommt«, sagte Senuhet.
»Warum haben wir nicht vorher angegriffen, als Hekate schlief?«, fragte Dee. Obwohl er das Ältere Geschlecht Hunderte von Jahren studiert hatte, musste er zugeben, dass er im Grunde sehr wenig darüber wusste. Es tröstete ihn etwas, dass die Älteren, wie er erkannt hatte, genauso wenig über die Menschen wussten.
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