Sophie beobachtete Hekate, während Scathach das sagte, und für den Bruchteil einer Sekunde sah sie etwas Dunkles in den Augen des Mädchens. »Ich habe das Jahrtausend überlebt, weil ich mich an meine Vorsätze gehalten habe«, sagte Hekate sehr leise und betont. »Aber ich habe sehr wohl Partei ergriffen, wenn es die Sache wert war.«
»Und jetzt«, mischte Nicholas Flamel sich ein, »ist es, wie ich glaube, wieder Zeit, Partei zu ergreifen. Aber nur du kannst entscheiden, ob es ein Kampf ist, für den zu kämpfen sich lohnt.«
Hekate erwiderte nichts darauf, sondern wandte sich an Sophie und Josh. Sie hob die kleine Hand und sofort leuchteten die Auren der Zwillinge in Silber und Gold. Hekate legte den Kopf schief und beobachtete die silbernen Bläschen, die über den Kokon glitten, der Sophie umhüllte, und folgte dem Netz goldener Adern, das sich über Joshs Aura zog. »Du könntest recht haben«, meinte sie schließlich, »das könnten tatsächlich die zwei sein, von denen in dem unglückseligen Codex die Rede ist. Es ist Jahrhunderte her, seit ich zum letzten Mal so reine Auren gesehen habe. Sie besitzen unglaubliche Mengen ungenutzter Kräfte.«
Flamel nickte. »Wenn ich die Zeit dazu hätte, würde ich die beiden zu mir nehmen und richtig ausbilden, ihr schlafendes Potenzial nach und nach wecken. Doch die Ereignisse haben sich gegen mich verschworen, und Zeit ist genau das kostbare Gut, das ich nicht habe. In deiner Macht allein liegt es nun, ihr Potenzial zu wecken. Du kannst das, was sonst Jahre dauern würde, in einem einzigen Augenblick vollbringen.«
Hekate schaute Flamel über die Schulter hinweg an. »Und es gibt gute Gründe, weshalb es Jahre dauern sollte. Die Humani nutzen ihre Sinne kaum. Und trotzdem soll ich diesen beiden Zugang zu ihren gewaltigen Möglichkeiten verschaffen. Das werde ich nicht tun. Die ungewohnten Eindrücke könnten sie umbringen, sie verrückt machen.«
»Aber -«, begann Flamel.
»Ich werde es nicht tun.« Sie wandte sich wieder an die Zwillinge. »Das, worum er mich bittet, könnte euch töten – falls ihr Glück habt.«
Damit drehte sie sich um und rauschte hinaus. Zurück blieben kleine grasbewachsene Fußabdrücke.
F ür einen Moment waren die Zwillinge sprachlos. Dann begann Josh: »Was soll das heißen...?«
Doch Nicholas lief hinter Hekate her an ihm vorbei und auf den Flur. »Sie übertreibt«, rief er über die Schulter zurück. »Sie will euch bloß Angst machen!«
»Das hat sie geschafft«, murmelte Josh. Er schaute zu Scathach hinüber, doch die drehte sich um und ging hinaus in Richtung Garten. »Hey«, rief er ihr nach, »komm zurück, ich muss dich was fragen!« Wut stieg in ihm auf. Er hatte es satt, wie ein Kind behandelt zu werden. Er – und seine Schwester – sollten ein paar Antworten wert sein.
»Josh«, warnte Sophie.
Doch ihr Bruder stürmte an ihr vorbei und wollte Scathach an der Schulter packen. Seine Finger berührten sie nicht einmal. Er wurde gepackt und herumgewirbelt und dann flog er durch die Luft. Er landete so hart, dass es ihm den Atem nahm. Sein Blick kroch die ganze Länge von Scathachs Schwert hinauf – die Spitze war genau auf seine Nasenwurzel gerichtet.
Als Scathach den Mund aufmachte, kam kaum mehr als ein Flüstern heraus. »Gestern Abend hast du eine Erstgewesene beleidigt. Heute hast du es geschafft, eine Ältere aus der nächsten Generation zu verärgern – und die Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen.« Sie steckte ihr Schwert in die Scheide und sah hinüber zu Sophie, die fassungslos dastand. Sie hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass Scathach sich bewegt hatte. »Ist er immer so?«, fragte Scatty.
»Wie?«
»Dumm, vorlaut, leichtsinnig...? Soll ich noch mehr aufzählen?«
»Nicht nötig. Aber ja, so ist er normalerweise. Manchmal noch schlimmer.« Früher hatte sie Josh immer damit aufgezogen, dass er alle »Action-Gene« abbekommen hätte, sie dagegen die »Denker-Gene«. Ihr Bruder war impulsiv und oft gedankenlos, aber – und das musste man ihm zugutehalten – auch loyal und zuverlässig.
Scathach zog Josh auf die Beine. »Wenn du in dieser Geschwindigkeit weitermachst, hältst du dich in dieser Welt nicht lang.«
»Ich wollte dich nur etwas fragen.«
»Du hast Glück gehabt. Noch vor wenigen Jahrhunderten hätte ich dich wahrscheinlich umgebracht. Ich war leicht reizbar, als ich jünger war«, gab sie zu, »aber ich habe an mir gearbeitet und habe mich jetzt besser unter Kontrolle.«
Josh rieb sich das Kreuz. Hätte Scathach ihn auf die Steine knallen lassen, hätte er sich böse verletzen können, doch sie hatte darauf geachtet, dass er im Gras und Moos landete. »Das war wohl ein Judowurf.« Er wollte lässig klingen, aber seine Stimme bebte noch.
»So etwas Ähnliches...«
»Wo hast du denn Judo gelernt?«
»Ich habe es nicht gelernt. Ich habe es erfunden. Genauer gesagt habe ich den Grundstein für die Vorläufer fast aller Kampfsportarten gelegt, die heute gelehrt werden«, erwiderte die rothaarige Kriegerprinzessin augenzwinkernd. Ihre grünen Augen blitzten. »Es würde euch beiden nicht schaden, wenn ich euch ein paar einfache Übungen zeigen würde.«
»Ich glaube, wir schaffen mehr als nur die einfachen Übungen«, meinte Josh. »Als unsere Eltern einen Lehrstuhl an der Uni in Chicago hatten, haben wir zwei Jahre lang Teakwondo gemacht und in New York ein Jahr Karate...«
»Du hast dir Judo ausgedacht?«, fragte Sophie Scathach, wobei sie versuchte, möglichst neutral zu klingen.
»Nein, das moderne Judo hat Kano Jigoro begründet, aber sein Kampfsystem basiert auf Jujitsu, das wiederum mit Aikido verwandt ist, das um das vierzehnte Jahrhundert herum aufkam. Ich glaube, ich war zu der Zeit in Japan. Alle Kampfsportarten haben eine gemeinsame Wurzel. Und die bin ich«, erklärte Scatty, und was sie sagte, klang gar nicht prahlerisch, sondern bescheiden. »Wenn ihr schon ein bisschen Taekwondo und Karate könnt, ist das ganz nützlich. Los, ich zeige euch ein paar Grundübungen, während wir auf Nicholas warten.«
»Wo ist er?« Sophie schaute zurück zum Haus. Was passierte dort gerade? »Bittet er Hekate noch einmal, unsere magischen Kräfte zu wecken?«
»Höchstwahrscheinlich.«
»Aber Hekate hat doch gesagt, dass uns das töten könnte«, sagte Josh. Langsam hatte er den Verdacht, dass Flamel sich mehr vorgenommen hatte, als nur ihn und seine Schwester zu schützen. Der Alchemyst schien seine eigenen Pläne zu verfolgen.
»Das war nur so dahergesagt«, meinte Scatty. »Sie hat schon immer gern ein Drama aus allem gemacht.«
»Dann ist Nicholas sicher, dass keine Gefahr besteht und uns nichts passieren kann?«, wollte Josh wissen.
»Nein, wirklich sicher ist er nicht.« Scatty lächelte. »In Gefahr seid ihr auf jeden Fall, das kannst du mir glauben. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ihr dann in großer Gefahr seid.«
Nicholas Flamel folgte Hekate durchs Haus. Sie strich mit den Fingern an den Wänden entlang und ihre Berührung ließ junge Zweige mit Blättern und Blüten wachsen.
»Ich brauche deine Hilfe, Hekate. Ich kann das nicht allein«, rief Flamel hinter ihr her.
Die Göttin ignorierte ihn. Sie bog in einen langen, geraden Flur ab und lief rasch weiter. Die Grasbüschel, die unter ihren Füßen aus dem Boden schossen, wuchsen schnell, und bis Flamel den Flur zur Hälfte durchschritten hatte, waren sie bereits kniehoch, dann hüfthoch, und plötzlich war der gesamte Flur mit mannshohem, messerscharfem Gras bewachsen. Die Halme schwankten und berührten sich dabei, und es klang fast, als flüsterten sie miteinander.
Nicholas Flamel ließ es zu, dass etwas von seinem wachsenden Zorn in seine Aura strömte. Er ballte die rechte Hand zur Faust und spreizte die Finger dann schnell wieder ab. Sofort war die Luft von einem intensiven Minzegeruch erfüllt. Das Gras direkt vor ihm legte sich flach, als sei ein Sturm darübergefegt, und der Alchemyst sah gerade noch, wie Hekate einen Raum betrat, der vom Rest des Hauses etwas abgesetzt war. Wenn er nur einen Moment länger gezögert hätte, wäre er an der offenen Tür vorbeigelaufen. »Jetzt ist aber Schluss mit den Spielchen!«, schnaubte er, als er eintrat.
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