Perenelle öffnete die Augen weit und konzentrierte sich auf ihre Aura. Deren natürliche Farbe war ein zartes, frostiges Weiß, das die Toten anzog wie ein Leuchtfeuer. Darüber hatte sie, wie ein Maler, der sein eigenes Bild übermalt, andere Farben gelegt: ein leuchtendes Blau, Smaragdgrün und Schlüsselblumengelb. Jetzt ließ Perenelle diese Farben eine nach der anderen verblassen, zuerst das Gelb, dann das Grün und schließlich den blauen Verteidigungsring.
Dann kamen die Geister. Von ihrer frostweißen Aura angezogen wie die Motten vom Licht, flackerten sie um sie herum auf: Männer, Frauen und Kinder in Kleidern, wie man sie in den vergangenen Jahrzehnten getragen hatte. Perenelle ließ den Blick über die farblosen Erscheinungen gleiten, nicht sicher, wonach sie eigentlich suchte. Frauen und Mädchen in den langen, fließenden Röcken des 18. Jahrhunderts und Männer mit den Stiefeln und Patronengürteln des 19. tat sie gleich ab und konzentrierte sich auf diejenigen Geister, die nach der Mode des 20. oder 21. Jahrhunderts gekleidet waren. Schließlich entschied sie sich für einen älteren Herrn in der modern aussehenden Uniform eines Wachmanns. Sie schob alle anderen Erscheinungen sacht beiseite und rief ihn näher zu sich heran.
Perenelle verstand es, wenn Leute – vor allem in modernen, gebildeten Gesellschaftsschichten – vor Geistern Angst hatten, obwohl sie wusste, dass dazu kein Grund bestand. Ein Geist war nichts anderes als die Überbleibsel der Aura einer Person, die an einem bestimmten Ort festhielten.
»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?« Die Erscheinung hatte eine kräftige Stimme und einen leichten Ostküstenakzent. Boston vielleicht. Der Mann stand groß und aufrecht da wie ein ehemaliger Soldat und sah aus, als sei er ungefähr sechzig Jahre alt.
»Können Sie mir sagen, wo ich bin?«, fragte Perenelle.
»Sie befinden sich im Keller des Hauptsitzes der Enoch Enterprises, gleich im Westen des Telegraph Hill. Fast direkt über uns ist der Coit Tower«, fügte der Geist stolz hinzu.
»Sie scheinen sich sehr sicher zu sein.«
»Das sollte ich auch. Ich habe dreißig Jahre hier gearbeitet. Natürlich nicht immer für die Enoch Enterprises, aber Gebäude wie dieses brauchen stets Wachmänner. Während meiner Schicht ist nie etwas passiert!«
»Darauf können Sie stolz sein, Mr...«
»Das bin ich auch.« Der Geist hielt inne, seine Erscheinung flackerte heftig. »Miller. So hieß ich. Jefferson Miller. Ist schon eine Weile her, seit mich jemand danach gefragt hat. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Sie haben mir bereits sehr geholfen. Zumindest weiß ich jetzt, dass ich immer noch in San Francisco bin.«
Der Geist schaute sie unverwandt an. »Haben Sie etwas anderes erwartet?«
»Ich fürchte, ich habe geschlafen, und hatte Angst, man hätte mich aus der Stadt gebracht«, erwiderte sie.
»Hält man Sie gegen Ihren Willen fest, Ma’am?«
»So ist es.«
Jefferson Miller schwebte näher. »Das ist nicht recht.« Es entstand eine lange Pause, in der seine Erscheinung leise flimmerte. »Aber ich kann Ihnen leider nicht helfen. Sehen Sie – ich bin ein Geist.«
Perenelle nickte. »Ich weiß.« Sie lächelte. »Aber ich war mir nicht sicher, ob Sie es auch wissen.« Einer der Gründe, weshalb Geister oft bestimmten Orten verbunden blieben, war der, dass sie einfach nicht wussten, dass sie tot waren.
Der alte Wachmann lachte keuchend. »Ich wollte gehen … Aber irgendetwas hält mich zurück. Vielleicht habe ich, als ich noch am Leben war, einfach zu viel Zeit hier verbracht.«
Wieder nickte Perenelle. »Ich kann Ihnen helfen, von hier zu entkommen, wenn Sie das möchten. Das könnte ich für Sie tun.«
Jefferson Millers Augen weiteten sich. »Das möchte ich sehr gern. Meine Frau Ethel ist zehn Jahre vor mir verstorben. Manchmal bilde ich mir ein, dass ich sie über die Schattenreiche hinweg nach mir rufen höre.«
»Sie möchte Sie nach Hause holen. Ich kann Ihnen helfen, die Stricke durchzutrennen, die Sie an diesen Ort binden.«
»Kann ich Ihnen dafür auch einen Gefallen tun?«
Perenelle lächelte. »Ja, ich wüsste da etwas… Vielleicht könnten Sie meinem Gatten eine Nachricht überbringen.«
S ophie und Josh folgten Scathach durch Hekates Haus. Überall wurden sie daran erinnert, dass sie sich im Innern eines Baumes befanden: Alles – Fußböden, Wände und Decken – war aus Holz, und hier und da sprenkelten Zweige mit Knospen und junge Schösslinge mit grünen Blättern die Wände, als wachse das Holz noch immer.
Sophie blieb dicht bei ihrem Bruder und schaute sich um. Das Haus schien aus einer Reihe kreisförmiger Zimmer zu bestehen, die fast unmerklich ineinander übergingen. In einige konnten sie im Vorbeigehen einen Blick werfen. Fast alle Räume waren kahl und in den meisten ragte in der Mitte ein Baum mit roter Rinde aus dem Boden empor. In einem Raum, der etwas abseits lag und um etliches größer war als die übrigen, sahen sie mittendrin ein großes ovales Wasserbecken. Mit den üppigen, weiß blühenden Wasserlilien, die darin wuchsen, sah es aus wie ein riesiges Auge.
Im nächsten Raum hing der Baum mit der roten Rinde voller hölzerner Windspiele. Sie waren alle unterschiedlich: Bei einigen waren die Klangstäbe mit eingeritzten Symbolen verziert, andere waren ganz schmucklos. Die Windspiele hingen unbewegt von den Ästen, bis Sophie in den Raum schaute. Da fingen sie an, sich zu bewegen und leise und melodisch zu klingen. Sophie griff nach Joshs Arm, um ihn darauf aufmerksam zu machen, doch er schaute stur geradeaus, die Stirn in Falten gelegt.
»Wo sind die Leute, die hier wohnen?«, fragte er schließlich.
»Hier wohnt nur Hekate«, erklärte Scathach. »Die Wesen des Älteren Geschlechts sind gern allein.«
»Leben eigentlich noch viele von ihnen?«, wollte Sophie wissen.
Scathach blieb vor einer offenen Tür stehen und schaute über die Schulter. »Mehr als du denkst. Die meisten wollen mit den Humani nichts zu tun haben und verlassen ihre jeweiligen Schattenreiche nur selten. Auch die Dunklen unter ihnen, die zu den alten Ordnungen zurückkehren wollen, arbeiten an der Verwirklichung ihrer Ziele meist nur über Mittelsmänner wie Dee.«
»Und was ist mit dir?«, fragte Josh. »Willst du die alten Ordnungen auch wiederhaben?«
»Ich habe sie nie für besonders gut gehalten«, antwortete Scatty. »Vor allem nicht für die Humani.«
Sie fanden Nicholas Flamel draußen auf einer hölzernen Plattform, die auf einem Ast ruhte, der waagrecht aus dem Stamm wuchs und einen Durchmesser von mindestens drei Metern hatte. Die Astspitze war nach unten geneigt und bohrte sich neben einem halbmondförmigen Teich in den Boden. Als Sophie über den Ast ging und hinunterschaute, stellte sie verblüfft fest, dass zwischen den verschlungenen Wassergräsern in dem Teich winzige, fast menschliche Gesichter mit weit offenen Augen und Mündern zu ihr heraufschauten.
Auf der Plattform standen fünf hochlehnige Stühle um einen runden Tisch herum, der eingedeckt war mit wunderschön geschnitzten Holzschalen sowie hölzernen Bechern und Kelchen. Auf Platten waren warmes, in dicke Scheiben geschnittenes Brot und dicke Scheiben Hartkäse angerichtet und in der Mitte des Tisches standen zwei große Schalen mit Obst – Äpfel, Orangen und riesige Kirschen. Der Alchemyst schälte mit einem dreieckigen schwarzen Steintäfelchen, das aussah wie eine Pfeilspitze, sorgfältig einen smaragdgrünen Apfel. Sophie fiel auf, dass er die Schalen so hinlegte, dass sie Buchstaben ähnelten.
Scatty setzte sich neben ihn. »Kommt Hekate nicht?«, fragte sie, nahm ein Stück Apfelschale und kaute darauf herum.
»Ich glaube, sie zieht sich zum Abendessen um«, antwortete Flamel und ersetzte das Stück Schale durch ein neues. Er schaute Sophie und Josh an. »Setzt euch. Unsere Gastgeberin kommt bald, dann können wir essen. Ihr müsst erschöpft sein.«
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