»Soll das heißen, dass in diesem Schattenreich nichts Elektronisches funktioniert?«, fragte Sophie und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Aber Hekate hat auch ein Handy. Ich habe gesehen, wie sie es Flamel gezeigt hat. Wird sein Akku nicht schwächer?«
»Hekate ist ungeheuer mächtig und mehr oder weniger immun gegen die Magie, die sie erzeugt. Ich könnte mir vorstellen, dass sie das Handy immer am Körper trägt, damit es sich nicht erschöpft. Möglich wäre auch, dass sie es von einem Diener in der Menschenwelt immer wieder neu aufladen lässt. Viele aus dem Älteren Geschlecht haben menschliche Diener.«
»Wie Flamel und Dee?«, fragte Sophie.
»Nicholas dient keinen Älteren«, erwiderte Scathach gedehnt. »Das Buch ist sein Meister. Dee dagegen … Nun, niemand weiß genau, wem oder was er dient.« Sie drehte den Kopf und betrachtete die Zwillinge nacheinander über die Schulter. »In ungefähr einer Stunde werdet ihr erschöpft sein, eure Muskeln werden schmerzen und vielleicht habt ihr sogar leichtes Kopfweh. Das kommt von dem Magiefeld, das eure Aura anzapft. Aber macht euch nicht allzu viele Gedanken deshalb, eure Auren sind ausgesprochen stark. Ihr müsst nur viel trinken.« Scatty ging von Fenster zu Fenster und beugte sich hinaus. »Ich weiß, dass sie da draußen irgendwo sind, aber ich sehe sie nicht«, sagte sie unvermittelt.
»Wer?«, fragte Sophie.
»Die Torc Allta.«
»Sind es wirklich Wereber? Also Menschen, die sich in wilde Eber verwandeln?«, wollte Sophie wissen.
Ihr Bruder hatte, seit Scathach ins Zimmer gekommen war, kein Wort mehr gesagt. Er starrte sie mit entsetzter Miene an; sein Mund war nur noch eine schmale Linie. Sie kannte den Ausdruck gut: Er hatte Angst, und wahrscheinlich musste er an sämtliche Vampirromane denken, die er gelesen, und an sämtliche Filme, die er gesehen hatte.
»Nein, nicht wirklich«, sagte Scatty. »Ich weiß, Nicholas hat euch erzählt, dass die Erde, bevor die Humani sie in Besitz nahmen, von anderen Wesen, anderen Rassen bewohnt wurde. Doch auch unter dem Älteren Geschlecht waren die Torc-Clans immer etwas Besonderes. Sie konnten von ihrer Tiergestalt in die Menschengestalt wechseln und wieder zurück.« Scatty setzte sich auf die niedrige Bettkante und streckte die Beine von sich. »Als die ersten Humani auftauchten, brachten die Torc-Clans ihnen bei, wie man Holz und Stein bearbeitet und Feuer macht. Die Humani verehrten die Torc-Clans als Götter – was meint ihr, warum so viele der frühesten Götter Tiergestalt haben? Denkt an die Höhlenbilder von Wesen, die weder Mensch noch Tier sind, sondern irgendetwas dazwischen. Sicher habt ihr auch schon Statuen der ägyptischen Götter gesehen: Sobek, Bastet oder Anubis – das sind Menschenkörper mit Tierköpfen. Denkt an die Tänze, bei denen Humani so tun, als seien sie Tiere. Das sind alles Erinnerungen an die Zeit, als die Torc-Clans Seite an Seite mit den Humani lebten.«
»Therianthropes«, murmelte Sophie.
Scatty sah sie verständnislos an.
»Wesen, in denen sich tierische und menschliche Formen vermischen«, erklärte Josh. »Ich habe dir erzählt, dass unsere Eltern Archäologen sind.« Er schaute Scathach von der Seite her an. »Trinkst du Blut?«, fragte er unvermittelt.
»Josh!«, wisperte Sophie.
»Nein, ich trinke kein Blut«, antwortete Scathach leise. »Jetzt nicht und auch sonst nicht.«
»Aber Vampire...«
Scathach sprang auf und stand mit zwei Schritten direkt vor Josh. Sie war nicht ganz so groß wie er, aber in diesem Moment schien sie ihn zu überragen. »Es gibt verschiedene Arten von Vampiren, verschiedene Clans, genauso wie es verschiedene Wer-Clans gibt. Und einige trinken auch Blut, das stimmt.«
»Aber du nicht«, warf Sophie ein, bevor ihr Bruder weitere peinliche Fragen stellen konnte.
»Nein, mein Clan nicht. Wir … nun, wir ernähren uns... anders«, sagte Scatty mit einem bitteren Lächeln. »Und wir brauchen ganz selten etwas«, fügte sie hinzu und wandte sich dann schnell ab. »Alles, was ihr gelernt habt, all die Mythen und Legenden aus eurer Welt, tragen ein Körnchen Wahrheit in sich. Ihr habt heute Wunder erlebt und werdet in den nächsten Tagen noch mehr erleben.«
»Was meinst du mit ›in den nächsten Tagen‹?«, fragte Josh alarmiert. »Wir gehen doch zurück nach Hause, oder?« Doch noch während er das fragte, wusste er schon die Antwort.
»Irgendwann«, erwiderte die Kriegerin. »Aber heute nicht und morgen ganz bestimmt auch noch nicht.«
Sophie legte die Hand auf Joshs Arm und verhinderte so, dass er die Frage stellte, die ihm auf der Zunge lag. »Wie war das mit den Legenden?«, fragte sie, um abzulenken.
Irgendwo im Haus schlug eine Glocke. Der Ton war hoch und rein und hing noch eine Weile in der unbewegten Luft.
Scathach ignorierte ihn. »Ich möchte nur, dass ihr euch darüber im Klaren seid, dass alles, was ihr an Legenden kennt – oder glaubt zu kennen -, zwar nicht unbedingt falsch ist, aber auch nicht ganz der Wahrheit entspricht. In jeder Geschichte steckt ein Körnchen Wahrheit. Ich nehme an, dass ein Großteil eures Wissens aus Filmen stammt oder aus dem Fernsehen.
Xena und Dracula haben eine Menge auf dem Kerbholz. Nicht alle Minotauren sind Ungeheuer, die Medusa hat nicht alle Männer in Stein verwandelt und nicht alle Vampire trinken Blut.«
Josh versuchte ein Lachen. Er war immer noch zutiefst entsetzt, weil Scatty zugegeben hatte, ein Vampir zu sein. »Als Nächstes wirst du auch noch behaupten, dass es Geister gibt.«
Scathach verzog keine Miene. »Du hast ein Schattenreich betreten, Josh, natürlich gibt es da Geister. Ich möchte, dass ihr beide von jetzt an auf euren Instinkt vertraut. Vergesst, was ihr über die Geschöpfe, denen ihr begegnen werdet, wisst oder zu wissen glaubt. Folgt eurem Herzen. Traut niemandem. Außer euch«, fügte sie hinzu.
»Aber dir und Nicholas können wir doch auch vertrauen, oder?«, fragte Sophie rasch.
Wieder läutete die Glocke, ein heller, durchdringender Ton.
»Vertraut niemandem«, wiederholte Scathach, und die Zwillinge merkten, dass sie der Frage auswich. Sie wandte sich zur Tür. »Ich glaube, die Glocke ruft zum Abendessen.«
»Können wir essen, was man uns vorsetzt?«, fragte Josh.
»Kommt darauf an.«
»Worauf?«, fragte er besorgt nach.
»Kommt darauf an, was es ist, natürlich. Ich esse zum Beispiel das Fleisch nicht.«
»Warum nicht?«, wollte Sophie wissen. Gab es ein bestimmtes Tier aus grauer Vorzeit, dessen Fleisch sie lieber nicht essen sollten?
»Ich bin Vegetarierin.«
P erenelle Flamel saß in einer Ecke des winzigen, fensterlosen Raums. Sie zog die Beine an, schlang die Arme darum und legte das Kinn auf die Knie. Sie konnte Stimmen hören – wütende, vorwurfsvolle Stimmen.
Perry konzentrierte sich darauf. Ihre Aura dehnte sich etwas aus, als sie einen Zauberspruch murmelte, den sie von einem Inuit-Schamanen gelernt hatte. Der Schamane benutzte ihn, um die Fische unter dem arktischen Eis zu hören und die Bären, wenn sie über entfernte Eisfelder tapsten. Es war ein einfacher Zauber, und er funktionierte dadurch, dass alle anderen Sinne ausgeschaltet wurden und man sich ausschließlich auf das Gehör konzentrierte. Perry sah noch, wie die Farbe aus ihrer Umgebung wich und alles dunkler wurde, bis sie schließlich blind war. Sie verlor ihren Geruchssinn, und es kribbelte in den Fingerspitzen und Zehen, als ihr Tastsinn nachließ und dann völlig ausgeschaltet war. Sie wusste, dass sie jetzt auch nicht mehr in der Lage wäre, etwas zu schmecken. Nur das Gehör blieb ihr, das jetzt sehr viel besser als vorher und äußerst empfindlich war.
Perenelle hörte in den Wänden hinter sich Käfer krabbeln, hörte das Ratsch-Ratsch einer Maus, die irgendwo an Holz nagte, und wusste, dass sich weiter weg eine Ameisenkolonne durch die Bodendielen fraß. Sie hörte auch zwei Stimmen, hoch und dünn, als kämen sie aus einem schlecht eingestellten Funkgerät. Perry legte den Kopf schief und konzentrierte sich. Sie hörte Wind pfeifen, Kleider flattern, die schrillen Schreie von Vögeln. Sie wusste, dass die Stimmen, die sie belauschte, vom Dach eines Gebäudes kamen. Sie wurden lauter, es trillerte, und dann waren sie plötzlich klar und deutlich zu hören: die Stimmen von Dee und der Morrigan. Perry hörte die Angst in der Stimme des Magiers und die Wut im schrillen Tonfall der Krähengöttin.
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