»Die von den Affen abstammen, das sind wir!«, sagte Josh, wobei er unbewusst flüsterte.
»Die Humani – die menschliche Rasse«, ergänzte Sophie und schwieg wieder, als Flamel weitersprach.
»Ist das der Grund, weshalb das Buch in meine Obhut gegeben wurde?«
»Du bist nicht der erste Humani, der... den Codex hütet«, erwiderte Hekate vorsichtig. »Er hätte überhaupt nie geschaffen werden dürfen«, schnaubte sie unvermittelt, und über ihr Gewand liefen schimmernde rote und grüne Linien. »Ich war dafür, dass jede Seite einzeln in den nächsten Vulkan geworfen wird und Abraham gleich mit dazu.«
»Warum wurde es nicht vernichtet?«, fragte Flamel.
»Weil Abraham das zweite Gesicht hatte. Er konnte die sich abrollenden Fäden der Zeit sehen, und er prophezeite, dass der Tag käme, an dem der Codex und alles Wissen, das er enthält, gebraucht würde.«
Scatty trat zu Flamel. Ihre Hand mit dem Bogen hing locker an der Seite herunter, aber sie bemerkte, dass Hekate sie mit ihren buttergelben Augen ganz genau beobachtete.
»Das Buch der Magie hatte immer einen Hüter«, erklärte Scathach Flamel. »Einige werden über die Legenden, die es von ihnen gibt, immer als große Heldengestalten in Erinnerung bleiben. Andere – und zu denen gehörst auch du – sind weniger bekannt, und wieder andere blieben ganz im Verborgenen.«
»Und wenn ich, ein Mensch, zum Hüter dieses kostbaren Codex ausersehen wurde, weil die Erstgewesenen ihn nicht anschauen, geschweige denn anfassen können, ist folglich ganz klar, dass ein anderer Mensch dazu ausersehen werden musste, ihn ausfindig zu machen«, sagte Flamel. »Und zwar Dee.«
Hekate nickte. »Ein gefährlicher Feind, Dr. John Dee.«
Flamel spürte die kühlen, trockenen Buchseiten auf seiner Haut. Ihm war bewusst, dass er, obwohl der Codex nun schon über ein halbes Jahrtausend in seinem Besitz war, gerade eben angefangen hatte, an der Oberfläche seiner Geheimnisse zu kratzen. Er hatte immer noch keine genaue Vorstellung davon, wie alt er war. In Gedanken schob er den Zeitpunkt seiner Entstehung immer weiter nach hinten. Als er das Buch im 14. Jahrhundert zum ersten Mal in Händen hielt, dachte er, es sei 500 Jahre alt. Als er dann mit seinen Nachforschungen begann, gab er ihm erst 800 Jahre, dann 1000, dann 2000 Jahre. Im letzten Jahrhundert schließlich, nach den Erkenntnissen der neuesten Entdeckungen in den Grabstätten Ägyptens, hatte er das Alter des Buches noch einmal korrigiert und es auf 5000 Jahre geschätzt. Und jetzt behauptete Hekate, die über 10 000 Jahre alt war, dass Abraham, jener geheimnisumwitterte Magier, das Buch zu ihren Lebzeiten verfasst hätte. Aber wenn das Ältere Geschlecht – die Götter aus den Mythen und Legenden – das Buch weder anfassen noch anschauen konnten, was war dann Abraham, sein Schöpfer? War er ein Erstgewesener, ein Humani oder etwas anderes? Gehörte er einer der vielen uralten Rassen an, die in jenen ersten Tagen die Erde bevölkerten?
»Warum bist du gekommen?«, fragte Hekate. »Ich wusste sofort, nachdem es passiert war, dass dir der Codex gestohlen wurde, aber ich kann dir bei der Suche danach nicht helfen.«
»Ich bin aus einem anderen Grund hierhergekommen«, sagte Flamel. Er trat näher an Hekate heran und senkte die Stimme, sodass sie sich zu ihm herbeugen musste, um ihn zu verstehen. »Als Dee mich angriff, das Buch an sich nahm und Perenelle zu seiner Gefangenen machte, kamen uns zwei Humani zu Hilfe. Ein junger Mann und seine Schwester.« Er machte eine kleine Pause, bevor er hinzufügte: »Zwillinge.«
»Zwillinge?«, wiederholte sie, die Stimme so ausdruckslos wie ihr Gesicht.
»Ja, Zwillinge. Schau sie dir an, und dann sage mir, was du siehst.«
Hekates Blick ging Richtung Wagen. »Einen Jungen und ein Mädchen, die T-Shirts und Jeans tragen, die schäbige Uniform dieser Zeit. Mehr sehe ich nicht.«
»Schau genauer hin. Und denke an die Prophezeiung.«
»Ich kenne die Prophezeiung. Maße dir nicht an, mich meine eigene Geschichte lehren zu wollen!« Hekates Augen blitzten und wechselten kurz die Farbe, wurden dunkel und hässlich. »Humani? Ausgeschlossen!« Sie marschierte an Flamel vorbei und schaute in den Wagen, betrachtete zuerst Sophie, dann Josh.
Den Zwillingen fiel gleichzeitig auf, dass ihre Pupillen länglich und schmal waren wie die einer Katze und dass sie nadelspitze Zähne hatte.
»Silber und Gold«, flüsterte Hekate unvermittelt. Sie hatte sich erneut Flamel zugewandt und ihr Akzent war stärker geworden. Mit spitzer Zunge fuhr sie sich über die Lippen. Sie drehte sich wieder zu den Zwillingen um. »Steigt aus.«
Sophie und Josh schauten Flamel an, und als dieser nickte, stiegen sie aus. Sophie ging um den Wagen herum und stellte sich neben ihren Bruder.
Zu ihr ging Hekate zuerst. Sophie zuckte kurz zurück, als die Göttin ihre linke Hand ergriff und die Handfläche nach oben drehte. Als sie sich Josh zuwandte, legte der ohne zu zögern seine Hand in ihre. Er versuchte lässig zu wirken, so als gäbe er jeden Tag einer zehntausend Jahre alten Göttin die Hand. Ihre Haut fühlte sich überraschend rau an.
Hekate sagte nur ein einziges Wort in einer Sprache, die vermutlich auf eine Zeit vor der Ankunft der ersten menschlichen Zivilisationen zurückging.
»Orangen«, flüsterte Josh, der die Frucht plötzlich roch und dann auch schmeckte.
»Nein, Eis«, sagte Sophie, »frisch zubereitetes Vanilleeis.« Sie drehte den Kopf... und sah, dass ihr Bruder sie ehrfürchtig anstarrte.
Ein silberner Schimmer umgab Sophie. Wie eine dünne zweite Haut hüllte er sie ein, flackerte auf und verschwand wieder. Als sie blinzelte, um ihren Bruder zu betrachten, wurden ihre Augen zu flachen Spiegeln.
Josh war von einem warmen Goldton umgeben. Das Schimmern konzentrierte sich bei ihm auf Kopf und Hände und pulsierte im Rhythmus seines Herzschlags. Die Iris seiner Augen glich goldenen Münzen.
Die Zwillinge konnten das Licht, das sie einhüllte, zwar sehen, an sich selbst und am anderen, spürten aber keinerlei Veränderung an sich. Nur der Duft war neu: nach Orangen und Vanille.
Wortlos ließ Hekate die Hände der Zwillinge los und sofort verblasste das Licht. Sie ging zu Flamel, nahm ihn am Arm und zog ihn den Weg hinunter, außer Hörweite von Scatty und den Zwillingen.
»Hast du eine Ahnung, was das sollte?«, fragte Sophie die Kriegerprinzessin. Ihre Stimme zitterte, und sie hatte noch den Geschmack von Vanille auf der Zunge und roch den Duft, der immer noch in der Luft lag.
»Die Göttin hat eure Aura getestet.«
»Der goldene Schimmer um Josh war seine Aura?«, fragte Sophie und sah ihren Bruder an.
»Deine war silbern«, sagte Josh.
Scathach hob einen flachen Kieselstein auf und warf ihn ins Gebüsch. Er traf etwas, das sofort durchs Unterholz davontrottete. »Die Aura ist meist vielfarbig. Sehr, sehr, sehr wenige Leute haben reine Farben.«
»So wie wir?«
»Wie ihr«, erwiderte Scatty mürrisch. »Die letzte Person mit einer reinen Silberaura, die ich traf, war eine als Johanna von Orléans bekannt gewordene junge Frau.«
»Und was hat es mit einer goldenen Aura auf sich?«, wollte Josh wissen.
»Die ist noch seltener. Der Letzte mit einer Aura in dieser Farbe war … lass mich überlegen … der junge König Tutanchamun.«
»Wurde er deshalb mit so viel Gold begraben?«
»Das war einer der Gründe, ja«, bestätigte Scathach.
»Sag jetzt nicht, du hast König Tut gekannt«, neckte Josh sie.
»Den nicht«, erwiderte Scatty ernst, »aber ich habe die kleine Johanna ausgebildet und an ihrer Seite in Orléans gekämpft. Ich habe ihr gesagt, sie soll nicht nach Paris gehen«, fügte sie leise und traurig hinzu.
»Hey, meine Aura ist seltener als deine.« Mit dieser Neckerei versuchte Josh, die gedrückte Stimmung aufzulockern. Er wandte sich wieder an Scathach. »Aber was bedeutet es genau, eine reinfarbene Aura zu haben?«
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