Ohne abzuwarten, ob sie gehorchten, schnippte Flamel den Feuerball Richtung Scheibe.
Auch durch die geschlossenen Lider sahen die Zwillinge das gleißende Licht.
»Und jetzt fahr weiter«, sagte Flamel.
Als die Zwillinge die Augen wieder öffneten, waren die meisten Krähen von der Windschutzscheibe verschwunden, und die paar, die noch auf dem Kühler hockten, wirkten benommen.
»Das wird sie nicht lange abhalten«, vermutete Scatty.
Sophie schaute sich suchend nach dem Seitenspiegel um, aber der baumelte an seiner Halterung, nur noch gehalten von einem verbogenen Stück Metall und etwas Draht. Immer neue Vogelschwärme kamen herangeflogen. Da wusste sie, dass sie es nicht schaffen konnten. Es waren einfach zu viele.
»Hört mal«, sagte Flamel plötzlich.
»Ich höre nichts«, erwiderte Josh grimmig.
Sophie wollte es gerade bestätigen, als sie das Geräusch wahrnahm. Und plötzlich spürte sie, wie es in ihrem Nacken zu prickeln begann und die Härchen an ihren Armen sich aufstellten. Leise und verloren verharrte der Ton am Rand ihrer Wahrnehmung. Er war wie eine Meeresbrise, einen Augenblick lang leise und einschmeichelnd, dann lauter, fast wütend. Ein seltsamer Duft drang in den Wagen.
»Was riecht hier so?«, fragte Josh.
Sophie atmete tief durch. »Gewürzorangen.«
»Granatäpfel«, sagte Flamel.
Und dann kam der Wind.
Er fegte über die Bucht, warm und exotisch, duftete nach Kardamon und Rosenwasser, nach Limone und Estragon. Er war förmlich sichtbar, wie er die ganze Länge der Brücke hinunterblies, die Vögel von den Pfeilern pflückte, von den Autos hob und aus der Luft mitnahm. Endlich erreichte der Granatapfelwind auch den SUV und im nächsten Moment waren sämtliche Vögel verschwunden.
Sophie drückte auf den Schalter für den elektrischen Fensterheber und die zerkratzte und mit kleinen Löchern übersäte Scheibe senkte sich ruckelnd ab. Sophie streckte den Kopf aus dem Fenster und atmete tief durch. Der riesige Vogelschwarm wurde vom Wind hoch hinaufgetragen in den Himmel. Wann immer sich ein Vogel aus dem Schwarm löste – eine von Morrigans magischen Krähen, wie Sophie vermutete -, fing ein warmer Windstoß ihn ein und drückte ihn zurück in den Schwarm. Von unten sahen die Massen von Vögeln aus wie eine schmutzige Wolke – die sich hoch in der Luft allmählich auflöste. Der Himmel war wieder blau und klar.
Sophie schaute die Brücke entlang. Die Golden Gate war völlig unpassierbar: Autos standen kreuz und quer und blockierten alle Spuren – und verhinderten, dass irgendjemand ihnen folgen konnte. Sämtliche Wagen waren mit weißem Vogelkot gesprenkelt.
Sophie zog ihren Kopf wieder ins Wageninnere und schaute ihren Bruder an. Sie erschrak, als sie einen kleinen Blutfaden auf seiner Unterlippe sah. Hastig zog sie ein Taschentuch aus der Tasche. »Du bist verletzt!«, sagte sie, befeuchtete eine Ecke des Taschentuchs mit Spucke und tupfte ihrem Bruder das Gesicht ab.
Josh schob ihre Hand weg. »Hör auf, das ist ja eklig!« Er berührte seine Lippe mit dem kleinen Finger. »Ich muss draufgebissen haben, ohne es zu merken.« Er nahm seiner Schwester das Taschentuch aus der Hand und rieb sich damit übers Kinn. »Es ist nichts.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Hast du gesehen, was für eine Schweinerei die Vögel gemacht haben?«
Sophie nickte.
Er schnitt eine Grimasse. »Wer das wieder sauber machen muss!«
Sophie lehnte sich erleichtert zurück; ihrem Bruder war nichts passiert. Als sie das Blut gesehen hatte, war sie im ersten Moment zu Tode erschrocken. Plötzlich kam ihr ein Gedanke und sie drehte sich zu Flamel um. »Hast du den Wind gerufen?«
Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein. Ich habe keine Gewalt über die Elemente. Das bleibt dem Älteren Geschlecht vorbehalten – und einigen ganz wenigen Menschen.«
Sophie schaute Scatty an, doch die schüttelte ebenfalls den Kopf. »Das übersteigt meine bescheidenen Fähigkeiten.«
Sophie ließ nicht locker. »Aber irgendjemand hat den Wind doch gerufen, oder?«
Flamel gab Sophie das Handy zurück. Wieder lächelte er. »Ich habe lediglich telefonisch eine Bitte geäußert.«
» B ieg hier ab«, sagte Nicholas Flamel. Josh nahm den Fuß vom Gaspedal und lenkte den schwer mitgenommenen SUV einen Pfad hinunter, der so schmal war, dass der Geländewagen gerade eben durchpasste. Sie hatten San Francisco Richtung Norden verlassen und waren etwa eine halbe Stunde gefahren. Während der Fahrt hatten sie die immer hysterischer klingenden Berichte im Radio gehört, in denen sich reihenweise Experten zu dem Angriff der Vögel auf der Golden-Gate-Brücke äußerten. Globale Erwärmung war der häufigste Erklärungsversuch. Die Sonneneinstrahlung störe das natürliche Navigationssystem der Vögel, hieß es.
Flamel hatte sie nach Norden Richtung Mill Valley und Mount Tamalpais dirigiert, doch sie hatten den Highway ziemlich schnell verlassen und sich an zweispurige Landstraßen gehalten. Der Verkehr wurde immer weniger, bis sie auf lange Strecken das einzige Auto weit und breit waren. Auf der schmalen Straße, auf der sie sich jetzt befanden und die so kurvig war, dass einem übel werden konnte, hatte Flamel Josh gebeten, fast im Schritttempo zu fahren. Er hatte sein Fenster heruntergelassen und nach draußen gesehen; der dichte Wald reichte hier überall bis an den Wegrand. Sie waren dann auch schon fast an dem nicht ausgeschilderten Pfad vorbeigefahren, bevor Flamel ihn sah. »Stopp! Du musst ein Stück zurücksetzen und hier abbiegen.«
Josh schaute seine Schwester an, als er den Wagen über den schmalen Waldweg lenkte. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet, aber ihre Knöchel traten vor lauter Anspannung weiß hervor. Ihre Fingernägel, die bis vor wenigen Stunden noch schön gepflegt waren, waren nun abgeknabbert – bei ihr ein sicheres Zeichen für Stress. Josh drückte Sophies Hand und sie drückte fest zurück. Wie in so vielen Fällen waren auch jetzt zwischen ihnen keine Worte nötig. Da ihre Eltern so oft weg waren, hatten Sophie und Josh schon sehr früh gelernt, dass sie sich im Grunde nur auf sich verlassen konnten. Bei den vielen Umzügen war es oft schwierig gewesen, in den wechselnden Schulen oder der Nachbarschaft neue Freunde zu finden und Freundschaften zu pflegen. Aber beide wussten, dass sie, egal was passierte, immer füreinander da sein würden.
Auf beiden Seiten des überwucherten Pfades wuchsen die Bäume fast in den Himmel und das Unterholz war erstaunlich dicht. Wilde Brombeeren und Dornenhecken streiften den Wagen und Stechginster, Geißklee, Brennnesseln und dazwischen giftiger Efeu bildeten ein undurchdringliches Dickicht.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, murmelte Sophie. »Es ist fast schon unnatürlich.« Sie hielt inne, als sie merkte, was sie gerade gesagt hatte. Sie drehte sich rasch um und schaute Flamel an. »Es ist unnatürlich, habe ich recht?«
Er nickte. Plötzlich sah er alt und müde aus. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und die Falten auf seiner Stirn und um den Mund schienen tiefer zu sein. »Willkommen in unserer Welt«, flüsterte er.
»Da bewegt sich was im Unterholz«, verkündete Josh laut. »Etwas Großes... und ich meine wirklich groß.« Nach allem, was er an diesem Tag schon gesehen und erlebt hatte, ging seine Fantasie mit ihm durch. »Es hält mit uns Schritt.«
»Solange wir auf dem Weg bleiben, kann uns nichts passieren«, beruhigte Flamel ihn.
Sophie versuchte, in dem dunklen Wald etwas zu erkennen. Zunächst sah sie nichts, doch dann merkte sie, dass das, was sie für einen Schattenfleck gehalten hatte, ein Tier war. Es bewegte sich und die Sonne tüpfelte sein Fell. Sie erhaschte einen Blick auf ein Gesicht mit einer platten Nase und gewaltigen gebogenen Hauern.
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