»Mehr als du vielleicht denkst. Allerdings versuche ich, mich von ihnen fernzuhalten«, erwiderte Scatty. »Manche von ihnen können nämlich nicht akzeptieren, dass unsere Zeit vorbei ist und dass dieses Zeitalter den Humani gehört. Sie wollen zurück zu dem, was einmal war, und glauben, dass ihre Marionette Dee und andere von seiner Sorte das ermöglichen können. Sie werden die Dunklen Älteren genannt.«
»Ich weiß nicht, ob es schon jemand gemerkt hat«, unterbrach sie Josh, »aber meint ihr nicht auch, dass sich da ziemlich viele Vögel sammeln?«
Sophie drehte sich wieder nach vorn, während Scatty und Flamel durch die Rückscheibe schauten.
Die Holmen und Pfeiler, Stützen, Stahlseile und Leitungen der Golden-Gate-Brücke füllten sich langsam mit Vögeln; es mussten schon viele Hunderte sein. Hauptsächlich Amseln und Krähen ließen sich auf sämtlichen verfügbaren Landeplätzen nieder und jeden Augenblick kamen mehr dazu.
»Sie kommen von Alcatraz herüber«, sagte Josh. Er zog das Genick ein, um über das bewegte Wasser zur Insel schauen zu können.
Eine dunkle Wolke stand über Alcatraz. Sie schien aus dem leer stehenden Gefängnis aufzusteigen und hing wie Rauch in der Luft – aber es war ein Rauch, der sich nicht verflüchtigte, sondern hin und her waberte und als dichte Masse ständig in Bewegung war.
Josh schluckte. »Das müssen Tausende sein.«
»Zehntausende«, korrigierte ihn Sophie. Sie drehte sich zu Flamel um. »Was hat das zu bedeuten?«
»Es sind die Kinder der Morrigan«, erwiderte er rätselhaft.
»Die Ärger bedeuten«, fügte Scatty hinzu, »haufenweise Ärger.«
Plötzlich bewegte sich der riesige Vogelschwarm wie auf ein Kommando hin von der Insel weg und kam über die Bay direkt auf die Brücke zugeflogen.
Josh drückte auf den Fensterheber und die getönte Scheibe senkte sich ab. Jetzt konnte man das Geräusch hören, das die Vögel machten, ein raues Krähen, das fast wie ein verzerrtes Lachen klang. Die Autos fuhren langsamer, einige Leute hielten an und stiegen aus, um mit Digitalkameras und Handys Aufnahmen zu machen.
Nicholas Flamel beugte sich vor und legte Josh die linke Hand auf die Schulter. »Du solltest weiterfahren«, sagte er eindringlich. »Nicht anhalten – egal, was passiert, selbst wenn du einen anderen Wagen streifst. Fahr einfach zu. So schnell du kannst. Bring uns von dieser Brücke.«
Flamels beherrschter Tonfall jagte Sophie mehr Angst ein, als wenn er geschrien hätte. Sie schaute kurz zu Scatty, doch die wühlte in ihrem Rucksack und zog schließlich einen kurzen Bogen und eine Handvoll Pfeile heraus und legte sie neben sich.
»Mach dein Fenster wieder zu, Josh«, sagte Scatty ruhig. »Wir wollen nicht, dass etwas hereinkommt.«
»Wir stecken in der Tinte, nicht wahr?«, flüsterte Sophie, wobei sie den Alchemysten ansah.
»Nur wenn die Krähen uns kriegen«, erwiderte Flamel mit einem dünnen Lächeln. »Könnte ich mir bitte dein Handy ausleihen?«
Sophie zog ihr Handy aus der Tasche und klappte es auf. »Willst du einen Zauber damit wirken?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Nein, ich werde jemanden anrufen. Drück die Daumen, dass nicht nur der Anrufbeantworter dran ist.«
D ie Sicherheitstore öffneten sich und Dees schwarze Stretchlimousine bog auf die Zufahrt ein. Der Golem-Chauffeur manövrierte den Wagen gekonnt durch vergitterte Tore in eine Tiefgarage. Perenelle Flamel kippte zur Seite und fiel auf den zweiten aufgeweichten Golem, der rechts neben ihr saß. Es gab ein glucksendes Geräusch und faulig riechende Dreckspritzer flogen durch den Wagen.
Dr. John Dee, der auf der anderen Seite neben dem Golem saß, verzog angeekelt das Gesicht und rutschte zurück in seine Ecke. Er telefonierte und redete dabei in einer Sprache, die seit mehr als dreitausend Jahren nicht mehr auf der Erde gesprochen wurde.
Ein Spritzer Golem-Schlamm landete auf Perenelles rechter Hand. Der zähe Schmutz lief über ihren Handrücken – und wischte dabei das gewundene Symbol ab, das Dee dort aufgemalt hatte.
Der Bindezauber war teilweise gebrochen. Perenelle Flamel senkte leicht den Kopf. Das war ihre Chance. Um mit ihrer Aura-Energie wirklich arbeiten zu können, brauchte sie eigentlich beide Hände, und der Fesselzauber, den Dee ihr auf die Stirn gemalt hatte, hinderte sie leider am Sprechen.
Aber dennoch …
Perenelle Delamere hatte sich immer für Magie interessiert, auch schon bevor sie den armen Buchhändler kennengelernt hatte, der später ihr Ehemann geworden war. Sie war die siebte Tochter einer siebten Tochter, und in dem winzigen Dorf Quimper im Nordwesten von Frankreich, wo sie aufgewachsen war, hielt man sie für etwas Besonderes. Sie konnte durch Handauflegen heilen, nicht nur Menschen, sondern auch Tiere. Sie konnte mit den Toten reden und manchmal sogar ein wenig in die Zukunft schauen. Da sie jedoch in einer Zeit aufgewachsen war, in der solche Fähigkeiten mit großer Skepsis betrachtet wurden, hatte sie gelernt, sie für sich zu behalten. Als sie nach Paris kam, sah sie, wie die Wahrsager, die auf den Märkten hinter der gewaltigen Kathedrale von Nôtre Dame arbeiteten, leichtes und gutes Geld verdienten. Sie nahm den Namen »Chatte Noire« an, »Schwarze Katze« – wegen ihrer pechschwarzen Haare -, und richtete sich in einem kleinen Stand mit Blick auf die Kathedrale ein. Innerhalb weniger Wochen hatte sie den Ruf, wirklich begabt zu sein. Ihre Kundschaft veränderte sich. Bald waren es nicht nur die Händler und Budenbesitzer, die zu ihr kamen, sondern auch Kaufleute und selbst Adlige.
Ganz in der Nähe ihres kleinen, überdachten Standes saßen die Amtsschreiber und Kopierer, Menschen, die sich ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Briefen für diejenigen verdienten, die weder lesen noch schreiben konnten. Einige von ihnen, wie zum Beispiel der schlanke, dunkelhaarige Mann mit den auffallend hellen Augen, verkauften gelegentlich auch Bücher an ihrem Stand. Und bereits als sie ihn zum ersten Mal sah, wusste Perenelle Delamere, dass sie diesen Mann heiraten würde und dass sie ein langes und glückliches Leben miteinander verbringen würden. Wie lang es tatsächlich werden sollte, war ihr allerdings nicht klar gewesen.
Keine sechs Monate nach ihrer ersten Begegnung heirateten sie. Inzwischen waren sie seit über 600 Jahren zusammen.
Wie die meisten gebildeten Männer seiner Zeit faszinierte auch Nicholas Flamel die Alchemie – eine vielversprechende Kombination aus Naturwissenschaft und Magie. Sein Interesse war geweckt worden, nachdem ihm gelegentlich alchemistische Bücher und Schaubilder zum Verkauf angeboten worden waren und man ihn gebeten hatte, einige der selteneren Werke zu kopieren. Im Gegensatz zu den meisten Frauen ihrer Zeit konnte Perenelle lesen und beherrschte mehrere Sprachen – ihr Griechisch war besser als das ihres Gatten -, und er bat sie oft, ihm etwas vorzulesen. Perenelle war rasch vertraut mit den verschiedenen Zweigen der Magie und begann, im kleinen Rahmen zu üben und ihre Fähigkeiten auszubauen. Dabei konzentrierte sie sich darauf, ihre Aura-Energie zu bündeln und in bestimmte Richtungen zu lenken.
Als der Codex in ihren Besitz kam, war Perenelle bereits eine Zauberin. Allerdings brachte sie für die mathematischen Berechnungen und Formeln der Alchemie wenig Geduld auf. Aber Perenelle war es gewesen, die erkannt hatte, dass es sich bei dem Buch in dieser seltsamen, sich ständig verändernden Schrift nicht nur um irgendein Zauberbuch handelte, sondern um eine weltumspannende Sammlung überlieferten Wissens, magischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. In einer bitterkalten Winternacht hatte sie über den Seiten gebrütet und zugeschaut, wie die Wörter darübergekrochen waren und die Buchstaben sich immer wieder neu geformt hatten, und einen Herzschlag lang hatte sie die Formel für den Stein der Weisen gesehen und sofort gewusst, dass in diesem Buch das Geheimnis ewigen Lebens lag.
Читать дальше