J osh entdeckte eine Lücke zwischen zwei Wagen, einem VW Beetle und einem Lexus. Er drückte das Gaspedal durch und der schwere Geländewagen schoss vorwärts. Doch die Lücke war nicht breit genug. Die Seitenspiegel der anderen Wagen schrammten über die Schutzverkleidung des SUV und wurden abgerissen.
»Huch …« Josh nahm sofort den Fuß vom Gas.
»Fahr weiter!«, befahl Flamel mit fester Stimme. Er hatte Sophies Handy am Ohr und redete eindringlich in einer kehligen, krächzenden Sprache, die die Zwillinge noch nie gehört hatten.
Josh blickte ganz bewusst nicht in den Rückspiegel und bretterte über die Brücke, ohne sich um das Geschrei und Gehupe hinter ihm zu kümmern. Er war jetzt auf der Außenspur, wechselte in die Mitte und scherte dann wieder rechts ein.
Sophie stützte sich am Armaturenbrett ab. Durch halb geschlossene Augen sah sie, wie ihr Wagen den nächsten Seitenspiegel mitnahm. Er kam fast in Zeitlupe angetrudelt und ritzte dann einen langen Kratzer in den schwarzen Lack ihres Wagens, bevor er seitlich hinunterrutschte.
»Mach dir nichts draus«, murmelte Sophie.
Ein kleiner italienischer Sportwagen mit offenem Verdeck hatte anscheinend dieselbe Lücke im Verkehr entdeckt, die auch Josh gerade anpeilte. Der Fahrer des Sportwagens, ein älterer Herr mit entschieden zu vielen Goldkettchen um den Hals, gab Gas und hielt auf die Lücke zu. Er schaffte es nicht.
Der schwere SUV erwischte den kleinen Hüpfer vorne rechts – das heißt, er berührte nur kurz dessen Stoßstange. Der Sportwagen drehte sich auf der verstopften Brücke einmal um seine eigene Achse und streifte dabei vier andere Wagen. Bremsen quietschten, Autos verkeilten sich scheppernd. Josh schoss durch die Lücke.
Flamel drehte sich um und schaute durch das Rückfenster auf das Chaos, das sie angerichtet hatten. »Hast du nicht gesagt, du könntest fahren?«, fragte er.
»Ich kann fahren«, erwiderte Josh und wunderte sich selbst, wie gelassen er klang. »Ich habe nicht behauptet, dass ich es gut kann. Glaubt ihr, dass sich einer unsere Nummer aufgeschrieben hat?« Das hier hatte mit seinen Fahrspielen am Computer absolut nichts mehr zu tun. Joshs Handflächen waren feucht und rutschig und der Schweiß rann ihm übers Gesicht. In seinem rechten Bein zuckte ein Muskel von der Anstrengung, die es ihn kostete, das Gaspedal die ganze Zeit voll durchzudrücken.
»Ich glaube, sie haben erst mal andere Sorgen«, flüsterte Sophie.
Die Krähen waren jetzt direkt über der Golden-Gate-Brücke. Tausende. Wie eine schwarze Welle hatten sie sie krächzend, kreischend und flügelschlagend überschwemmt. Sie standen über den Wagen in der Luft, kamen im Sturzflug ganz nah heran, und gelegentlich landeten sie sogar auf Dächern oder Kühlerhauben und pickten an Metall und Glas. Auf der gesamten Länge der Brücke kam es zu Zusammenstößen.
»Sie haben ihr Ziel aus den Augen verloren«, stellte Scathach fest, nachdem sie die Vögel, die hinter ihnen kreisten, eine Weile beobachtet hatte. »Sie suchen uns, haben aber unsere Beschreibung vergessen. Kein Wunder bei so winzigen Gehirnen«, meinte sie verächtlich.
»Etwas hat ihre Dunkle Herrin abgelenkt«, sagte Flamel. Dann ging ein Leuchten über sein Gesicht. »Perenelle! Ich wüsste zu gern, was sie getan hat. Bestimmt irgendetwas Hochdramatisches. Sie hatte immer einen Sinn für das Theatralische.«
Doch er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da erhoben sich die Vögel wieder in die Luft, und wie auf ein Kommando wandten sich alle dem dahinbrausenden schwarzen SUV zu. Jetzt klang ihr Krächzen wie Triumphgeschrei.
»Sie kommen zurück«, stellte Sophie atemlos fest. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Sie drehte sich zu Flamel und der Kriegerin um, in der Hoffnung, dass diese sie beruhigen würden, doch die grimmigen Gesichter der beiden waren ihr kein Trost.
Scathach erwiderte ihren Blick. »Jetzt geht’s los«, sagte sie nur.
Als gewaltige, schwarz gefiederte Masse kamen die Krähen hinter dem Wagen her.
Der Verkehr auf der Brücke hinter ihnen war inzwischen fast vollständig zum Erliegen gekommen. Die Leute saßen starr vor Schreck in ihren Wagen, als die Vögel kreischend über ihre Dächer hinwegflogen. Der schwarze Geländewagen war das einzige Auto, das noch fuhr, und vor ihm war die Spur weiterhin frei. Josh drückte das Gaspedal durch und der Tacho zeigte knapp 80 Meilen. Er fühlte sich inzwischen etwas sicherer beim Fahren; schon fast eine Minute lang hatte er nichts mehr gestreift. Das Ende der Brücke war in Sicht. Er atmete tief. Sie würden es schaffen.
Und dann landete eine riesige Krähe auf ihrer Kühlerhaube.
Sophie schrie auf, und Josh riss das Lenkrad herum in dem Versuch, den furchteinflößend großen Vogel abzuschütteln, doch er hatte sich an den hochgebogenen Kanten des Kühlergrills festgekrallt. Als würde das Auto nicht rasen, sondern still stehen, legte er den Kopf schräg und schaute zuerst Josh an, dann Sophie. Dann kam er bis direkt an die Windschutzscheibe gesprungen, krallte sich dort in die Lüftungsschlitze und schaute herein. Die schwarzen Augen glitzerten.
Er hackte ans Glas... und ein kleiner, sternförmiger Riss wie von Steinschlag wurde sichtbar.
»Das dürfte er gar nicht können«, sagte Josh, der sich bemühte, den Blick auf der Straße zu lassen.
Die Krähe hackte erneut und ein zweiter Riss erschien. Dann gab es einen dumpfen Aufprall, gefolgt von einem zweiten und dritten, als weitere Krähen das Autodach anflogen. Ein metallisches Pling-Pling ertönte, als sie anfingen, mit ihren Schnäbeln darauf einzuhacken.
Scathach seufzte. »Ich hasse Krähen.« Sie wühlte in ihrem Rucksack und zog ein Nunchaku-Set hervor, zwei mit Schnitzereien verzierte, 30 cm lange Rundhölzer, die über eine etwa 10 cm lange Kette miteinander verbunden waren. Sie ließ die Hölzer in ihre Handfläche klatschen. »Schade, dass wir kein Sonnendach haben«, sagte ich. »Sonst könnte ich hinausklettern und sie das hier mal kurz spüren lassen.«
Flamel deutete auf ein Loch im Dach, durch das ein Sonnenstrahl hereinfiel. »Vielleicht haben wir bald eines. Außerdem sind das keine normalen Krähen. Das sind magische Wesen – die ganz besonderen Lieblinge der Morrigan.«
Der riesige Vogel auf der Motorhaube hackte erneut gegen das Glas und dieses Mal durchstieß der Schnabel die Scheibe.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dagegen etwas …«, begann Scathach.
Da beugte Sophie sich zu Josh hinüber und schaltete die Scheibenwischer ein. Die schweren Wischerblätter setzten sich in Bewegung und fegten den Vogel unter überraschtem Gekrächze und Geflattere einfach von der Kühlerhaube.
Die rothaarige Kriegerin lachte. »Na ja, so kann man es natürlich auch machen.«
Inzwischen hatte auch der Rest der Vögel den SUV erreicht. Wie ein dicker Teppich ließen sie sich auf dem Wagen nieder, und auf übernatürliche Weise gelang es ihnen, sich dort festzuhalten. Erst waren es Dutzende, dann Hunderte, die auf dem Dach landeten, auf der Kühlerhaube, den Türgriffen oder Seitenverkleidungen. Verlor ein Vogel den Halt und rutschte herunter, kämpften gleich Dutzende neue um den Platz. Bei Hunderten von Vögeln, die auf dem Metall und dem Glas herumhackten und -scharrten, war der Lärm im Wagen einfach ohrenbetäubend. Die Krähen rissen an den Gummidichtungen um die Fenster, machten sich über das Ersatzrad am Heck her und zerfetzten es. Da Josh vor lauter Vögeln nichts mehr sah, musste er endlich auch den Fuß vom Gas nehmen.
»Fahr weiter!«, rief Flamel. »Wenn du anhältst, sind wir verloren.«
»Aber ich sehe nichts!«
Flamel beugte sich zwischen den Sitzen nach vorn und streckte die rechte Hand aus. Zum ersten Mal bemerkte Sophie das kleine Tattoo auf der Unterseite seines Handgelenks: ein Kreis mit einem Kreuz darin, dessen Arme über den Kreis hinausragten. Es leuchtete, nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann schnippte der Alchemyst mit den Fingern. Ein winziger, zischender Feuerball kam aus seinen Fingerspitzen. »Macht die Augen zu«, befahl er.
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