Sophie drehte sich um und schaut nach hinten. In dem abgedunkelten, klimatisierten SUV erschienen Flamel und Scatty wie ganz gewöhnliche Leute. Flamel sah aus wie ein alternder Hippie und Scatty hätte trotz ihrer Vorliebe für militärische Kleidung auch hinter den Tresen der »Kaffeetasse« gepasst. Sie hatte das Kinn in die Hand gestützt und schaute durch die dunkle Scheibe über die Bay zur Gefängnisinsel Alcatraz hinüber.
Nicholas Flamel senkte den Kopf, um ihrem Blick folgen zu können. »Da drüben war ich schon eine ganze Weile nicht mehr«, murmelte er.
»Wir haben mal eine Führung dort gemacht«, sagte Sophie.
»Mir hat es gefallen«, warf Josh ein. »Sophie nicht.«
»Ich fand’s gruselig.«
»Das sollte es auch sein«, sagte Flamel leise. »Die Insel wird von einer außergewöhnlichen Mischung von Geistern bewohnt. Als ich das letzte Mal dort war, musste ich einem besonders üblen Schlangenmenschen eine Zwangspause verordnen.«
»Ich will lieber nicht wissen, was ein Schlangenmensch ist«, murmelte Sophie und fügte, nachdem sie kurz überlegt hatte, hinzu: »Noch vor ein paar Stunden hätte ich mir nicht einmal vorstellen können, so etwas zu sagen.«
Nicholas Flamel lehnte sich auf seinem bequemen Sitz zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Euer Leben – deines und das deines Bruders – wird nie mehr so sein wie früher. Das wisst ihr, ja?«
Sophie nickte. »Langsam wird mir das klar. Aber es passiert alles so schnell, dass man es kaum fassen kann. Golems aus Lehm, Magie, Bücher voller Zaubersprüche, Ratten...« Sie schaute Scathach an. »Kriegerinnen aus grauer Vorzeit …«
Scatty nickte kurz.
»Und nicht zu vergessen ein sechshundert Jahre alter Alchemyst...« Sophie hielt inne, als ihr plötzlich etwas einfiel. Sie schaute von Flamel zu Scatty und wieder zu Flamel. Sie nahm sich Zeit, um ihre Frage zu formulieren, und als sie sie dann stellte, sah sie den Alchemysten aus zusammengekniffenen Augen an. »Du bist doch ein Mensch, oder?«
Nicholas Flamel lächelte. »Ja, das sagte ich doch. Vielleicht bin ich noch etwas darüber hinaus, aber ich wurde geboren und werde immer der menschlichen Rasse angehören.«
Sophie schaute Scathach an. »Aber du bist …«
Scathach erwiderte den Blick aus großen grünen Augen und für einen Augenblick war in ihren Gesichtszügen etwas Uraltes zu erkennen. »Nein«, sagte sie sehr leise, »ich gehöre nicht den Humani an. Meine Leute, das Ältere Geschlecht, sind aus anderem Holz geschnitzt. Wir regierten diese Erde, bevor die Geschöpfe, die zu Humani wurden, von den Bäumen geklettert sind. Heutzutage kennt uns fast jedes Volk aus seinen Mythen. Wir sind die Vorbilder aller Legenden: die Werwolf-Clans, Vampire, Riesen, Drachen, Monster. In den Geschichten nennt man uns die Älteren. Manche nennen uns auch Götter.«
»Warst du je eine Göttin?«, fragte Sophie im Flüsterton.
Scatty kicherte. »Nein, eine Göttin war ich nie. Aber es gab welche aus meinem Volk, die ließen sich als Götter verehren. Andere wurden von den Humani zu Göttern gemacht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir waren einfach eine andere Rasse, älter als die Menschen, mit anderen Gaben, anderen Fähigkeiten.«
»Und was ist mit euch passiert?«
»Die Sintflut kam«, erwiderte Scatty. »Unter anderem.«
»Die Erde ist sehr viel älter, als die meisten Menschen es sich vorstellen«, erklärte Flamel. »Geschöpfe und mächtige Wesen, die heute nur noch Mythos sind, haben sie einst bevölkert.«
Sophie nickte langsam. »Unsere Eltern sind Archäologen. Sie haben uns von einigen der unerklärlichen Dinge erzählt, auf die Archäologen manchmal stoßen.«
»Erinnerst du dich noch an den Ort in Texas, wo wir einmal waren, Taylor irgendwas …?«, warf Josh ein. Vorsichtig manövrierte er den schweren SUV wieder auf die mittlere Spur. Er hatte ständig Angst, mit einem anderen Wagen zusammenzustoßen. Ein paar Mal wäre das fast passiert, und er war überzeugt, einmal tatsächlich den Seitenspiegel eines Autos gestreift zu haben, doch er war weitergefahren, ohne etwas zu sagen.
»Der Taylor Trail«, sagte Sophie, »am Paluxy River in Texas. Es gibt dort, wie es aussieht, versteinerte Fußabdrücke von Dinosauriern und Menschen in ein und derselben Gesteinsschicht. Und die wird auf ein Alter von hundert Millionen Jahren geschätzt.«
»Ich habe sie gesehen«, sagte Flamel, »und ähnliche auf der ganzen Welt. Ich habe auch den Schuhabdruck untersucht, der in Antelope Springs in Utah gefunden wurde – in Gestein, das auf fünfhundert Millionen Jahre geschätzt wird.«
»Mein Dad sagt, dass man solche Funde locker als Fälschungen abtun kann«, warf Josh ein. Er hätte zu gern gewusst, was sein Vater zu dem, was sie heute erlebt hatten, zu sagen hätte.
Flamel zuckte mit den Schultern. »Stimmt. Was die Naturwissenschaft nicht versteht, tut sie ab. Nur kann nicht alles so einfach beiseitegewischt werden. Könnt ihr zum Beispiel das, was ihr heute gesehen und erlebt habt, als Fälschung ignorieren?«
Sophie schüttelte den Kopf.
Josh neben ihr zog unbehaglich die Schultern zusammen. Ihm gefiel nicht, wohin diese Unterhaltung führte. Dass Dinosaurier und Menschen zur selben Zeit gelebt hatten, war einfach undenkbar. Die bloße Vorstellung widersprach allem, was seine Eltern ihm und seiner Schwester beigebracht hatten, allem, wovon sie überzeugt waren. Aber da war diese leise Stimme in seinem Kopf, die ihn daran erinnerte, dass jedes Jahr Archäologen – manchmal auch seine Eltern – außergewöhnliche Entdeckungen machten. Da gab es die Zwergdinosaurier, die man in Deutschland entdeckt hatte, die hundertfünfundsechzig Millionen Jahre alten Dinosaurierspuren in Wyoming und erst vor Kurzem die acht neuen prähistorischen Spezies, die in einer Höhle in Israel entdeckt worden waren. Aber was Flamel andeutete, hätte unglaubliche Folgen. »Du behauptest also, dass Menschen und Dinosaurier zur selben Zeit auf der Erde lebten?«, sagte er und wunderte sich selbst, wie wütend er klang.
»Ich behaupte, dass Menschen zusammen mit noch viel seltsameren und wesentlich älteren Wesen auf der Erde gelebt haben«, erwiderte Flamel ernst.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Sophie. Er behauptete, 1330 geboren zu sein. Da konnte er doch keine Dinosaurier gesehen haben … oder?
»Es steht alles im Codex. Und ich selbst habe im Lauf meines langen Lebens Tiere gesehen, die als bloße Erfindung gelten, ich habe gegen Wesen aus Legenden gekämpft, ich habe Kreaturen in ihre Schranken verwiesen, die aussahen, als kämen sie direkt aus einem Albtraum.«
»Wir haben letztes Jahr in der Schule Shakespeare durchgenommen. Es gibt da eine Stelle in Hamlet ...« Sophie versuchte, sich zu erinnern. »Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden …«
Nicholas Flamel nickte erfreut. »... als eure Schulweisheit sich träumen lässt«, vollendete er das Zitat. »Hamlet, erster Akt, fünfte Szene. Ich kannte William Shakespeare. Will hätte ein überdurchschnittlich guter Alchemyst werden können. Doch dann fiel er Dee in die Hände. Der arme Will. Habt ihr gewusst, dass er sich für den Prospero in Der Sturm Dee zum Vorbild nahm?«
»Ich habe Shakespeare nie gemocht«, brummte Scatty. »Der Kerl hat seltsam gerochen.«
»Ihr habt Shakespeare gekannt?« Der zweifelnde Unterton in Joshs Stimme war unüberhörbar.
»Er war kurze Zeit ein Schüler von mir«, sagte Flamel. »Sehr kurze Zeit. Ich habe lange gelebt und hatte viele Schüler – einige hat die Geschichte berühmt gemacht, die meisten sind vergessen. Ich habe viele Leute getroffen, menschliche und nicht menschliche, sterbliche und unsterbliche. Leute wie Scathach zum Beispiel.«
Sophie schaute Scatty an. »Gibt es noch mehr, die sind wie du? Noch mehr Ältere?«
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