»Mr Fleming fährt mit Perry in ihr Haus in der Wüste, und sie haben uns gefragt, ob wir uns nicht eine kleine Pause gönnen und mitkommen wollen. Wir sagten natürlich, dass wir zuerst euch fragen müssen. – Ja, mit Tante Agnes haben wir schon geredet. Ihr ist es recht, solange es für euch okay ist. Sag ja, Mom, bitte!«
Sie schaute ihren Bruder an und kreuzte die Finger. Er tat dasselbe. Sie hatten lange darüber diskutiert, was sie ihrer Tante und ihrer Mutter sagen sollten, aber was sie tun würden, falls ihre Mutter nicht zustimmte, wussten sie noch nicht.
Sophie gab ihrem Bruder mit hochgerecktem Daumen das Okay-Zeichen. »Ja, im Café würde ich freibekommen. – Nein, wir fallen ihnen bestimmt nicht auf die Nerven. – Ja, Mom. – Ja, ich dich auch. Und sag liebe Grüße an Dad.« Sophie lauschte in den Hörer und drehte das Handy dann von ihrem Mund weg. »Dad hat ein Dutzend fast unversehrte Pseudoarctolepis sharpi gefunden«, berichtete sie. Josh schaute sie verständnislos an. »Ein sehr seltenes kambrisches Krustentier.«
Ihr Bruder nickte. »Sag Dad, dass das absolut super ist. Wir melden uns wieder«, rief er.
Sophie beendete das Gespräch rasch mit einem »Ich hab dich lieb«. Kaum hatte sie das Handy zugeklappt, sagte sie: »Ich hasse es, wenn ich sie anlügen muss.«
»Ich weiß. Aber die Wahrheit konntest du ihr schlecht sagen, oder?«
Sophie zuckte mit den Schultern. »Wohl eher nicht.«
Josh drehte sich wieder zum Spülbecken um. Sein Laptop balancierte auf der Abtropffläche neben dem Handy. Das Handy brauchte er, um online gehen zu können, denn das Dojo hatte weder einen Telefonanschluss noch Internetzugang. Etwas, das Josh kaum fassen konnte.
Scatty lebte über dem Dojo in einer kleinen Zweizimmerwohnung mit der Küche am einen Ende des Flurs und dem Schlafzimmer mit einem winzigen Bad am anderen Ende. Eine kleine Galerie, die über dem darunterliegenden Dojo entlangführte, verband die beiden Zimmer. Die Zwillinge hielten sich in der Küche auf, während Flamel Scatty im Schlafzimmer am anderen Ende des Flurs auf den neuesten Stand der Dinge brachte.
»Was hältst du von ihr?«, fragte Josh beiläufig, während er sich auf seinen Computer konzentrierte. Er hatte es endlich geschafft, ins Internet zu kommen, aber es dauerte unfassbar lang, bis eine Verbindung hergestellt war. Er rief Alta Vista auf und versuchte es mit verschiedenen Schreibweisen von Scathach, bevor er sie mit der richtigen endlich fand. »Da ist sie: siebenundzwanzigtausend Einträge für Scathach, die Schattenhafte«, sagte er und fügte lässig hinzu: »Ich finde sie cool.«
Der allzu lässige Tonfall machte Sophie sofort stutzig. Sie grinste und zog die Augenbrauen hoch. »Wen? Oh, du meinst die zweitausend Jahre alte Kriegerin. Findest du nicht, dass sie ein bisschen zu alt für dich ist?«
Josh wurde knallrot. »Ich versuch’s mal bei Google«, murmelte er und ließ die Finger über die Tastatur tanzen. »Hier sind es über sechsundvierzigtausend Einträge«, sagte er. »Sieht so aus, als ob es sie tatsächlich geben würde. Dann wollen wir mal schauen, was Wiki über sie weiß.« Als von Sophie keine Reaktion kam, drehte er sich zu ihr um und stellte fest, dass sie wie gebannt aus dem Fenster starrte.
Auf dem Dach des Hauses auf der anderen Straßenseite stand eine Ratte und schaute zu ihnen herüber. Während sie sie beobachteten, kam eine zweite und dann eine dritte dazu.
»Sie sind hier«, flüsterte Sophie.
Dee konzentrierte sich darauf, sein Mittagessen bei sich zu behalten.
Mit Rattenaugen zu sehen, war eine Übelkeit erregende Erfahrung. Da die Tiere ein so winziges Gehirn hatten, brauchte es eine Menge Willenskraft, um sie bei der Stange zu halten … was in einer Gasse mit haufenweise verdorbenem Essen keine einfache Aufgabe war. Dee beglückwünschte sich kurz, dass er nicht die gesamte Wirkungskraft des Spähzaubers ausgeschöpft hatte. Damit wäre es ihm möglich gewesen, alles, worauf die Ratte stieß, zu hören, zu schmecken und – ein entsetzlicher Gedanke – zu riechen.
Es war, als sähe man einen schlecht eingestellten Schwarzweißfilm. Das Bild verschob sich, wackelte und kippte mit jeder Bewegung der Ratte. Sie konnte waagrecht über den Boden laufen, senkrecht eine Wand hinauf, dann kopfunter über ein Seil, und das alles innerhalb von Sekunden.
Irgendwann stabilisierte sich das Bild.
Direkt vor Dee waren die beiden Menschen, die er im Buchladen gesehen hatte. Sie waren grauschwarz und ihre Umrisse leuchteten in einem purpurrot getönten Grau. Ein Junge und ein Mädchen, vielleicht fünfzehn Jahre alt und sich ähnlich genug, dass sie verwandt sein konnten. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf, bei dem er seine Konzentration verlor: Waren sie womöglich Bruder und Schwester...? Oder konnten sie noch etwas anderes sein? Nein, ausgeschlossen!
Dee schaute wieder in die Spähschale, nahm seine ganze Willenskraft zusammen und zwang die Ratte, die er befehligte, vollkommen still zu stehen. Dee konzentrierte sich auf die beiden jungen Leute und versuchte zu entscheiden, ob der Junge vielleicht älter war als das Mädchen, doch das Sehvermögen der Ratte war dazu zu schwach und das Bild zu verzerrt.
Aber falls sie tatsächlich gleichaltrig waren... bedeutete dies, dass sie Zwillinge waren. Das war seltsam. Er betrachtete sie erneut und schüttelte den Kopf. Sie waren Menschen. Er schob den Gedanken beiseite und gab einen einzigen Befehl, der durch sämtliche Ratten fuhr, die sich im Umkreis von einer halben Meile um den Aufenthaltsort der Zwillinge aufhielten: »Vernichte sie. Vernichte sie vollkommen.«
Die Krähen erhoben sich in die Luft und krächzten heiser, als wollten sie Bravo rufen.
Josh beobachtete mit offenem Mund, wie die riesige Ratte vom Dach gegenüber ohne sichtbare Anstrengung den zwei Meter breiten Spalt zwischen den Häusern übersprang. Sie hatte ein breites Maul und extrem spitze Zähne. Er brachte ein kurzes »Hey!« heraus und sprang vom Fenster zurück – im selben Augenblick, in dem die Ratte mit einem dumpfen Plopp gegen die Scheibe prallte. Sie rutschte ein Stockwerk tiefer auf die Gasse, wo sie orientierungslos umhertaumelte.
Josh packte Sophie an der Hand und zog sie hinaus auf die Galerie. »Es wird ernst!«, rief er. Und hielt abrupt inne.
Unter ihnen schoben sich drei riesige Golems durch die weit offene Tür zur Gasse. Sie zogen eine Spur aus trockenen Schlammklumpen hinter sich her – und in einer langen, gewundenen Kette die Ratten.
D ie drei Golems betraten mit ungelenken Schritten den Korridor, sahen die offene Tür am anderen Ende und bewegten sich darauf zu. Die fingerlangen Metallpfeile schossen aus den Wänden und bohrten sich in ihre gehärtete Schlammhaut, konnten sie aber nicht einmal zu langsamerem Gehen zwingen.
Die halbmondförmigen Klingen dicht über dem Boden waren eine andere Geschichte. Sie klickten aus ihren in den Wänden verborgenen Scheiden und schnitten in die Knöchel der Männer aus Lehm. Der erste stürzte zu Boden, und es hörte sich an, als hätte jemand einen Klumpen feuchter Erde hingeworfen. Der zweite balancierte auf einem Fuß, bevor er langsam gegen die Wand kippte und daran herunterrutschte, wobei er eine Schmutzspur hinterließ. Die halbrunden Klingen klickten erneut und schnitten die beiden Golems in zwei Hälften, woraufhin diese sich in ihren lehmigen Ausgangsstoff zurückverwandelten. In Sekundenschnelle war alles voller Dreckklumpen.
Der dritte und größte Golem blieb stehen. Der Blick aus seinen schwarzen Steinaugen glitt emotionslos über die Reste seiner beiden Kameraden. Dann drehte er sich um und drosch mit seiner gewaltigen Faust gegen die Wand, zuerst gegen die rechte, dann gegen die linke. Auf der linken Seite brach ein ganzer Wandabschnitt in sich zusammen und gab den Blick auf den dahinterliegenden Raum frei. Der Golem betrat das Dojo und schaute sich um; die schwarzen Augen bewegten sich nicht.
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