»Mir wird gleich schlecht«, murmelte Sophie. Erst am Tag zuvor hatte sie zu ihrem Zwillingsbruder gesagt, dass die Arbeit im Café in den vergangenen Wochen ihren Geruchssinn geschärft hatte. Sie hatte sich damit gerühmt, Gerüche unterscheiden zu können, die sie früher nicht einmal wahrgenommen hatte. Jetzt war das ganz entschieden ein Nachteil. In der Luft lag der ranzige Geruch nach verfaultem Obst und Fisch.
Josh nickte nur. Er konzentrierte sich darauf, durch den Mund zu atmen, auch wenn es ihn bei der Vorstellung, dass sich die stinkende Luft auf seine Zunge legte, ekelte.
»Gleich haben wir es geschafft«, sagte Flamel. Der Gestank schien ihm nichts auszumachen.
Die Zwillinge hörten ein Rascheln, drehten sich um und sahen gerade noch fünf pechschwarze Ratten über die offenen Mülltonnen huschen. Eine riesige schwarze Krähe setzte sich auf eine der vielen Leitungen, die die Gasse überspannten.
Vor einer unscheinbaren Holztür, die so schmutzig war, dass sie sich kaum von der Hauswand unterschied, blieb Nicholas Flamel unvermittelt stehen. Es gab weder eine Klinke noch ein Schlüsselloch. Flamel spreizte die Finger seiner rechten Hand, legte die Fingerspitzen an bestimmten Stellen aufs Holz und drückte. Es klickte und die Tür ging auf. Er packte Sophie und Josh, zog sie ins Dunkel und drückte die Tür hinter ihnen zu.
Nach dem Gestank in der Gasse roch es in dem Flur wunderbar: Jasmin und andere zarte, exotische Düfte lagen in der Luft. Die Zwillinge atmeten tief durch.
»Bergamotte«, verkündete Sophie, die den leichten Orangenduft erkannte. »Und Ylang-Ylang und Patschuli, glaube ich.«
»Ich bin beeindruckt«, sagte Flamel.
»Im Café habe ich die Aromen zu unterscheiden gelernt. Ich mochte den Duft der exotischen Teesorten.« Sie hielt inne, weil ihr plötzlich auffiel, dass sie redete, als würde sie nie mehr in den Laden zurückgehen. Gerade jetzt setzte dort der erste Ansturm der Nachmittagsgäste ein, die Cappuccino und Cafè Latte bestellten, Eistee und Kräutertee. Sie blinzelte die Tränen weg, die ihr plötzlich in den Augen brannten. Sie sehnte sich nach der »Kaffeetasse«, weil sie so gewöhnlich und normal war.
»Wo sind wir hier?«, fragte Josh, der sich, nachdem seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, umschaute.
Sie standen in einem langen, schmalen, blitzsauberen Flur. An den Wänden war glattes, helles Holz und auf dem Boden lagen kunstvoll gewebte weiße Schilfmatten. Am Ende des Korridors war eine schlichte, offenbar tapezierte Tür. Josh wollte einen Schritt darauf zu machen, als Flamels Hand sich in seine Schulter krallte.
»Nicht bewegen«, murmelte er. »Warten. Beobachten. Wahrnehmen. Wenn du dir diese drei Worte merkst, hast du vielleicht eine Chance, die nächsten Tage zu überleben.« Flamel griff in seine Tasche und zog eine Münze heraus, legte sie auf seinen Daumen und schnippte sie in die Luft. Sie drehte sich ein paar Mal, dann begann sie zu fallen …
Etwas zischte und ein nadelspitzer Pfeil bohrte sich durch die Münze, spießte sie in der Luft auf und pinnte sie an die Wand.
»Ihr habt die sichere und geregelte Welt, die ihr bisher kanntet, verlassen«, sagte Nicholas Flamel ernst und schaute die Zwillinge an. »Nichts ist mehr, wie es scheint. Ihr müsst lernen, alles infrage zu stellen. Zu warten, bevor ihr euch bewegt, zu schauen, bevor ihr einen Schritt macht, und alles genau zu beobachten. Ich habe diese Lektionen in der Alchemie gelernt. Ihr werdet feststellen, dass sie für euch in dieser Welt, in die ihr ohne es zu wollen hineingeraten seid, von unschätzbarem Wert sein werden.« Er wies auf den Flur. »Schaut hin und beobachtet genau. Und dann sagt mir: Was seht ihr?«
Josh entdeckte das erste, winzige Loch in der Wand. Es war so getarnt, dass es aussah wie ein Astloch. Nachdem er das erste gesehen hatte, fielen ihm noch Dutzende weitere Löcher in den Wänden auf. Ob hinter jedem Loch ein kleiner Pfeil saß, der Metall durchbohren konnte?
Sophie fiel auf, dass Wand und Boden nicht genau aneinanderstießen. An drei Stellen – sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite – war nahe der Fußleiste ein sichtbarer Spalt.
Flamel nickte. »Gut. Und jetzt schaut her. Wir haben gesehen, was die Pfeile können, aber es gibt noch eine andere Gefahr...« Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und warf es neben einen der schmalen Schlitze in der Wand. Ein metallisches Klicken war zu hören, dann stieß eine große, halbmondförmige Klinge aus der Wand, zerschnitt das Taschentuch zu Konfetti und verschwand wieder.
»Wenn dich die Pfeile verfehlen...«, begann Josh.
»… erwischen dich die Klingen«, vollendete Sophie den Satz. »Und wie kommen wir dann zur Tür?«
»Gar nicht«, erwiderte Flamel, drehte sich um und drückte auf die Wand zu seiner Linken. Mit einem Klicken öffnete sich ein ganzer Wandabschnitt und schwang zurück, sodass sie einen großen, luftigen Raum betreten konnten.
Die Zwillinge wussten sofort, wo sie sich befanden: in einem Dojo, einer Kampfsportschule. Schon als Kinder hatten sie in Dojangs wie diesen überall in den Staaten Taekwondo gelernt, während sie mit ihren Eltern von einer Universität zur anderen zogen. Viele Schulen hatten eigene Kampfsportclubs auf dem Gelände, und ihre Eltern hatten sie immer im besten Dojo angemeldet, den sie nur ausfindig machen konnten. Sowohl Sophie als auch Josh hatten den roten Gürtel, eine Stufe unter dem schwarzen.
Im Gegensatz zu den anderen Dojos war dieser hier kahl und ohne jeden Schmuck. Er war ganz in Weiß und Cremetönen gehalten, mit weißen Wänden und schwarzen Matten auf dem Boden. Sophies und Joshs Blicke wurden jedoch sofort auf die Gestalt in weißem T-Shirt und weißen Jeans gelenkt, die mit dem Rücken zu ihnen ganz allein in der Mitte des Raumes saß. Ihr kurz geschorenes, leuchtend rotes Haar war der einzige Farbtupfer im gesamten Dojo.
»Wir haben ein Problem«, sagte Nicholas Flamel ohne Umschweife zu der Gestalt.
» Du hast ein Problem. Ich habe damit nichts zu tun.« Die Gestalt drehte sich nicht um, doch die Stimme war überraschenderweise die einer Frau, und sie klang auch noch jung und hatte einen leichten Akzent, irisch oder schottisch, vermutete Sophie.
»Dee hat mich heute entdeckt.«
»Das war nur eine Frage der Zeit.«
»Er kam mit Golems.«
Es entstand eine Pause. Die Gestalt drehte sich noch immer nicht um. »Er war schon immer ein Dummkopf. Man benutzt in einem trockenen Klima keine Golems. Das ist seine Arroganz.«
»Er hat Perenelle gekidnappt.«
»Ah. Das ist schlimm. Aber er wird ihr nichts tun.«
»Und er hat den Codex.«
Da kam Bewegung in die Gestalt. Sie stand langsam auf und drehte sich zu ihnen um. Die Zwillinge stellten schockiert fest, dass sie einem Mädchen gegenüberstanden, das nicht viel älter war als sie selbst. Sie hatte helle Haut und Sommersprossen und das runde Gesicht wurde von grasgrünen Augen beherrscht. Ihr Haar war von einem so kräftig leuchtenden Rot, dass Sophie vermutete, es könnte gefärbt sein.
»Den Codex?«
Sophie war jetzt sicher, dass es ein irischer Akzent war.
»Abrahams Buch der Magie?«
Nicholas Flamel nickte.
»Dann hast du recht. Wir haben ein Problem.«
Flamel griff in seine Tasche und zog die zwei Seiten heraus, die Josh gerettet hatte. »Er hat nicht das ganze Buch. ›Der letzte Aufruf‹ fehlt ihm.«
Die junge Frau gab ein Geräusch von sich, das sich anhörte wie Wasser, wenn es kocht, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Den er natürlich haben will.«
»Natürlich.«
Josh beobachtete die rothaarige Frau sehr genau. Ihm fiel auf, dass sie vollkommen reglos dastand, wie die meisten Kampfsportlehrer, die er kannte. Er warf seiner Schwester einen Blick aus den Augenwinkeln zu und hob fragend die Augenbrauen, wobei er mit dem Kinn auf das Mädchen wies. Sophie schüttelte den Kopf. Auch sie war neugierig, weshalb Nicholas Flamel ihr so offensichtlichen Respekt entgegenbrachte. Sophie war außerdem zu dem Schluss gekommen, dass mit dem Gesichtsausdruck des Mädchens etwas nicht stimmte. Was es war, konnte sie jedoch nicht sagen. Es war ein ganz gewöhnliches Mädchengesicht – vielleicht waren die Wangenknochen etwas zu hoch und das Kinn etwas zu spitz -, aber die smaragdgrünen Augen zogen alle Blicke auf sich und fesselten den Betrachter. Und dann stellte Sophie erschrocken fest, dass das Mädchen nicht blinzelte.
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