Dee zog einen seiner grauen Lederhandschuhe aus und ließ ihn neben sich auf den Sitz fallen. Er beugte sich vor, tauchte den Finger in die Schlammpfütze neben dem Golem und malte ein geschwungenes Symbol auf Perenelles linken Handrücken. Dann malte er das Symbol spiegelverkehrt noch einmal auf ihre rechte Hand. Er tauchte den Finger erneut in den zähen schwarzen Schlamm und hatte gerade drei Wellenlinien auf ihre Stirn gemalt, als sie plötzlich die grünen Augen aufschlug. Dee zog die Hand rasch zurück.
»Perenelle Flamel, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, dich wiederzusehen.«
Perenelle öffnete den Mund und wollte etwas sagen, brachte jedoch kein Wort heraus. Sie versuchte, sich zu bewegen, doch davon abgesehen, dass der Golem ihren Arm festhielt, gehorchten ihr ihre Muskeln nicht.
»Ah, du musst entschuldigen, aber ich habe mir die Freiheit genommen, dich unter einen Fesselzauber zu stellen. Ein einfacher Zauber, aber er genügt, bis ich etwas Dauerhafteres organisieren kann.« Dee lächelte, doch er wirkte alles andere als heiter. Sein Handy klingelte und er klappte es auf. »Entschuldigung«, sagte er zu Perenelle.
»Du hast das Foto bekommen?«, fragte Dee. »Ja, ich dachte mir, dass du Spaß daran haben würdest. Die legendäre Perenelle Flamel in unseren Händen. Oh, ich bin mir ziemlich sicher, dass Nicholas sie suchen wird. Und dann sind wir vorbereitet. Das nächste Mal entkommt er uns nicht.«
Perenelle hörte deutlich das meckernde Lachen am anderen Ende.
»Ja, natürlich.« Dee griff in die Innentasche seines Jacketts und brachte das in Kupfer gebundene Buch zum Vorschein. »Wir haben den Codex. Endlich.« Er begann in den zerlesenen Seiten zu blättern, während er weitersprach. Dann senkte er die Stimme, und es war nicht klar, ob er mit sich selbst oder dem Anrufer redete. »Zehntausend Jahre magisches Wissen zwischen zwei Buchdeckeln …«
Seine Stimme war immer leiser geworden. Plötzlich fiel ihm das Telefon aus der Hand. Es rutschte über den Boden der Limousine und klappte zu.
Ganz hinten in dem Buch fehlten zwei Seiten, waren brutal herausgerissen worden.
Dee schloss die Augen und leckte sich mit seiner spitzen Zunge einmal ganz kurz über die Lippen. »Der Junge«, krächzte er, »der Junge, als ich es ihm aus der Hand riss.« Er öffnete die Augen wieder und schaute sich die Seiten, die jetzt die letzten waren, genau an. »Vielleicht sind sie nicht von Bedeutung...«, murmelte er. Seine Lippen bewegten sich, während er mit Blicken den sich ständig verändernden und hin und her wandernden Worten folgte. Er konzentrierte sich auf die prachtvoll ausgemalten Buchstaben am Anfang der Seiten, die ein Hinweis auf das waren, was folgte. Dann hielt er abrupt inne; seine Hände zitterten. Als er den Kopf hob, glühten seine Augen.
»Es fehlt ›Der letzte Aufruf‹!«, brüllte er. Gelbe Funken tanzten um seinen Kopf und die Rückscheibe hinter ihm wies plötzlich weiße, spinnennetzartige Sprünge auf. »Umkehren!«, brüllte er den Fahrer an. »Sofort umkehren! Nein, halt, ich nehme den Befehl zurück. Flamel ist kein Idiot. Sie sind bestimmt längst weg.« Er hob rasch das Handy vom Wagenboden auf und sammelte sich einen Moment lang. Dabei vermied er Perenelles Blick. Nachdem er ein paar Mal tief durchgeatmet und sich sichtlich beruhigt hatte, öffnete er das Telefon und wählte. »Es gibt da ein kleines Problem«, sagte er in geschäftsmäßigem Ton. »Am Ende des Buches scheinen ein paar Seiten zu fehlen. Nichts Wichtiges, da bin ich mir sicher. Vielleicht könntest du mir einen Gefallen tun«, fügte er beiläufig hinzu. »Sag doch der Morrigan, dass ich sie brauche.«
Dee sah, wie Perenelle erschrocken die Augen aufriss, als sie den Namen hörte. Er grinste hämisch. »Sag ihr, ich brauche ihre ganz speziellen Talente.« Damit klappte er das Handy zu und wandte sich wieder an Perenelle Flamel. »Es wäre so viel leichter gewesen, wenn sie mir den Codex einfach gegeben hätten. Jetzt kommt die Morrigan. Und du weißt, was das bedeutet.«
S ophie sah die Ratte als Erste. Die Zwillinge waren in New York aufgewachsen und hatten die Sommer meistens in Kalifornien verbracht. Ratten waren also nichts Neues für sie. Wenn man in einer Hafenstadt wie San Francisco lebte, gewöhnte man sich rasch an den Anblick dieser Tiere. Besonders am frühen Morgen und späten Abend kamen sie aus den Löchern und Kanälen. Sophie hatte nicht unbedingt Angst vor ihnen, obwohl sie wie alle anderen auch gewisse Horrorgeschichten über Ratten gehört hatte, Stadtlegenden und »wahre« Begebenheiten, die ein Freund von einem Freund erlebt hatte. Sophie wusste aber, dass die meisten Ratten harmlos waren, solange man sie nicht in die Enge trieb. Sie glaubte, dass sie irgendwo gelesen hatte, sie könnten unglaublich hoch springen. In einem Artikel im Sonntagsmagazin der New York Times hatte außerdem gestanden, dass es in den Vereinigten Staaten genauso viele Ratten wie Menschen gab.
Aber diese Ratte war anders.
Ihr Fell war glatt und schwarz, nicht das übliche schmutzige Braun. Die Ratte kauerte reglos am Eingang zu einer Gasse, und Sophie hätte schwören können, dass sie leuchtend rote Augen hatte. Und sie sah sie an.
Vielleicht war es eine zahme Ratte, die ausgebüxt war?
»Ah, du hast sie auch bemerkt«, murmelte Flamel, fasste Sophie am Arm und schob sie weiter. »Wir werden beobachtet.«
»Von wem?«, wollte Josh wissen. Er drehte sich rasch um, da er erwartete, Dees lange schwarze Limousine die Straße herunterkommen zu sehen. Aber es war nirgendwo ein Wagen zu sehen und niemand schien ihnen spezielle Aufmerksamkeit zu schenken. »Wo?«
»Die Ratte in der Gasse dort«, sagte Nicholas Flamel. »Nicht hinschauen.«
Aber es war zu spät. Josh hatte die Ratte bereits entdeckt. »Die Ratte da? Die Ratte beobachtet uns? Das kann nicht dein Ernst sein!« Josh fixierte die Ratte in der Erwartung, dass sie sich umdrehte und davonhuschte. Doch sie hob nur den Kopf und blickte zurück. Dann öffnete sie das Maul und zeigte ihre spitzen Zähne. Josh lief es kalt über den Rücken. Schlangen und Ratten – er konnte beide nicht ausstehen. Noch mehr allerdings hasste er Spinnen. Und Skorpione.
»Ratten haben doch normalerweise keine roten Augen, oder?«, fragte er seine Schwester, die, soweit er wusste, vor gar nichts Angst hatte.
»Normalerweise nicht«, antwortete sie.
Als er sich wieder zur Gasse hin umdrehte, saßen schon zwei pechschwarze Ratten dort. Eine dritte kam aus dem Dämmerlicht, setzte sich daneben und schaute zu ihnen herüber.
»Okay«, sagte Josh schließlich, »ich habe Menschen gesehen, die aus Lehm waren, warum soll es dann keine Rattenspione geben? Ob sie auch sprechen können?«, überlegte er laut.
»Mach dich nicht lächerlich«, fauchte Flamel. »Es sind Ratten.«
Josh hielt seine Frage keineswegs für so lächerlich.
»Hat Dee sie geschickt?«, wollte Sophie wissen.
»Er folgt uns. Die Ratten haben am Laden unsere Spur aufgenommen. Ein simpler Spähzauber lässt ihn sehen, was sie sehen. Sie sind primitive, aber effektive Werkzeuge, und wenn sie unseren Geruch erst einmal aufgenommen haben, können sie uns folgen, bis wir durchs Wasser gehen. Aber die da machen mir mehr Sorgen.« Er wies mit dem Kinn nach oben.
Sophie und Josh schauten hoch. Auf den Dächern der umliegenden Häuser saßen ungewöhnlich viele schwarze Vögel.
»Krähen«, sagte Flamel nur.
»Sie haben etwas Schlimmes zu bedeuten?«, vermutete Sophie. Von dem Moment an, in dem Dee die Buchhandlung betreten hatte, war so ziemlich alles schlimm gewesen.
»Es könnte etwas sehr Schlimmes sein. Aber ich denke mal, uns passiert nichts. Wir sind fast da.« Flamel wandte sich nach links und führte die Zwillinge ins Herz von San Franciscos exotischer Chinatown. Sie gingen am Sam-Wong-Hotel vorbei, bogen dann rechts in eine enge Seitenstraße ein und gleich darauf links in eine noch engere Gasse. Abseits der relativ sauberen Hauptstraßen stapelten sich hier in den Gassen leere Kartons, und dazwischen standen offene Mülltonnen, aus denen der charakteristische süßsaure Gestank von verdorbenen Lebensmitteln strömte. In der Gasse, in der sie sich befanden, stank es besonders schlimm, die Luft war praktisch schwarz von Fliegen, und die Gebäude auf beiden Seiten waren so hoch, dass der gesamte Weg im Dämmerlicht lag.
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