Die junge Frau warf plötzlich den Kopf zurück und atmete tief und mit geblähten Nasenflügeln ein und aus. »Rieche ich deshalb Beobachter?«
Flamel nickte. »Ratten und Krähen überall.«
»Und du hast sie hergebracht?« Ein vorwurfsvoller Unterton lag in ihrer Stimme. »Ich habe Jahre gebraucht, bis ich das Haus so weit hatte.«
»Du weißt, was Dee mit dem Codex tut, sobald er ihn hat.«
Die junge Frau nickte. Dann ging ihr Blick zu den Zwillingen, die sie bisher vollkommen ignoriert hatte. »Und diese beiden?«, fragte sie.
»Sie waren dabei, als Dee angriff. Sie haben mit mir gekämpft und dieser junge Mann konnte die Seiten aus dem Buch reißen. Das ist Sophie und das ihr Zwillingsbruder Josh.«
»Zwillinge?« Die junge Frau kam auf sie zu und betrachtete sie nacheinander. »Nicht identisch, aber eine Ähnlichkeit ist da.« Sie wandte sich wieder an Flamel. »Du denkst doch nicht …?«
»Ich denke, dass es sich hier um einen interessanten Zufall handelt«, erwiderte Flamel geheimnisvoll. Er schaute die Zwillinge an. »Darf ich euch Scathach vorstellen? Da sie selbst euch wahrscheinlich nicht sehr viel über sich erzählen wird, sage ich euch, dass sie zu dem Älteren Geschlecht gehört und sämtliche legendären Krieger und Helden der letzten zweitausend Jahre ausgebildet hat. In der Mythologie ist sie bekannt als Kriegerprinzessin, als die Schattenhafte, als Dämonenschlächterin und Königsmacherin, als -«
»Nennt mich einfach Scatty«, sagte die junge Frau, die so rot geworden war wie ihr Haar.
D r. John Dee saß in seinem Wagen und versuchte – nicht zu hundert Prozent erfolgreich -, sein Temperament zu zügeln. Schwefelgeruch hing in der Luft und dünne gelblich weiße Feuerfäden züngelten um seine Fingerspitzen. Er hatte versagt, und auch wenn seine Gebieter ausgesprochen geduldig waren – sie leiteten oft Vorhaben ein, deren Verwirklichung sich über Jahrhunderte hinzog -, verloren sie nun doch langsam die Geduld. Und als besonders mitfühlend waren sie wirklich nicht bekannt.
Perenelle Flamel beobachtete ihn reglos – der Fesselzauber wirkte noch. In ihren blitzenden Augen lag eine Mischung aus Hass und etwas anderem, das fast Angst hätte sein können.
»Jetzt wird es kompliziert«, murmelte Dee, »und ich hasse Komplikationen.«
Dee balancierte eine flache silberne Schüssel auf den Knien, in die er eine Dose Limonade gegossen hatte – eine andere Flüssigkeit hatte er gerade nicht zur Hand gehabt. Er arbeitete am liebsten mit klarem Wasser, aber eigentlich ging es mit jeder Flüssigkeit. Er beugte sich über die Schale, starrte in die Limonade und ließ etwas von seiner Aura-Energie von seinen Fingern auf die Oberfläche tröpfeln, während er die Eingangsworte zu dem Spähzauber murmelte.
Einen Augenblick lang war nur sein eigenes Spiegelbild zu sehen, doch dann schlug die Limonade plötzlich Wellen und blubberte. Nachdem sich alles wieder beruhigt hatte, war nicht mehr Dees Gesicht in der Schale zu sehen, sondern ein seltsam flaches Bild in rotgrauen und grünlich schwarzen Tönen. Der Blickwinkel lag nahe am Boden, alles bewegte und veränderte sich in schwindelerregendem Tempo.
»Ratten«, knurrte Dee und verzog voller Abscheu das Gesicht. Er hasste es, wenn er mit den Augen von Ratten sehen musste.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du sie hier hergebracht hast«, sagte Scatty, während sie Kleider in einen Rucksack stopfte.
Nicholas Flamel stand mit vor der Brust verschränkten Armen in der Tür zu Scattys winzigem Schlafzimmer. »Alles ging so schnell. Dass Dee den Codex hat, ist schlimm genug, aber als ich erfuhr, dass Seiten fehlen, wusste ich, dass die Zwillinge in großer Gefahr sind.«
Als das Wort »Zwillinge« fiel, schaute Scatty auf. »Sie sind der eigentliche Grund, weshalb du hier bist, habe ich recht?«
Flamel hatte an der Wand plötzlich etwas sehr Faszinierendes entdeckt.
Scatty ging durch den kleinen Raum, schaute den Flur hinauf und hinunter, um sich zu vergewissern, dass Sophie und Josh immer noch in der Küche waren, zog dann Flamel ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter ihm.
»Du hast doch irgendetwas im Sinn. Was ist es?«, wollte sie wissen. »Hier geht es um mehr als nur um den Verlust des Codex. Du wärst mit Dee und seinen Speichelleckern doch auch allein fertig geworden.«
»Sei dir da mal nicht so sicher. Mein letzter Kampf liegt lange zurück, Scathach«, sagte Flamel leise. »Alles, was ich auf dem Gebiet der Alchemie jetzt noch mache, ist, ein wenig von dem Lebenselixier zu brauen, das Perenelle und mich jung erhält. Gelegentlich mache ich auch noch ein bisschen Gold oder mal einen Edelstein, wenn wir Geld brauchen.«
Scatty lachte kurz und freudlos und machte sich wieder ans Packen. Sie trug inzwischen ein Paar schwarze Combat-Pants, Magnum-Stiefel mit Stahlspitzen und ein schwarzes T-Shirt, über das sie eine schwarze Weste mit unzähligen Taschen und Reißverschlüssen gezogen hatte. Sie stopfte ein zweites Paar Hosen in den Rucksack, fand eine Socke und machte sich unter dem Bett auf die Suche nach der zweiten.
»Nicholas Flamel«, begann sie, »du bist der mächtigste Alchemyst auf dieser Welt.« Ihre Stimme klang unter dem Bett etwas gedämpft. »Weißt du noch, wie du an meiner Seite gegen den Dämon Fomor gekämpft hast? Und du warst derjenige, der mich aus dem Verlies von An Chaor-Thanach gerettet hat, und nicht ich dich.« Sie kam mit der gesuchten Socke unter dem Bett hervor. »Als die Rusalka St. Petersburg terrorisierten, hast du sie ganz allein zurückgetrieben, und als Black Annis in Manitoba wütete, habe ich gesehen, wie du sie bezwungen hast. Du allein hast die Nachthexe und ihre Armee der Untoten bezwungen. Mehr als ein halbes Jahrtausend hast du den Codex studiert, keiner kennt die Geschichten und Legenden darin besser als du -«
Scatty hielt plötzlich inne, riss die grünen Augen auf und zog scharf die Luft ein. »Das ist es«, sagte sie. »Es hat etwas mit den Legenden zu tun …«
Flamel streckte die Hand aus und legte seinen Zeigefinger auf Scattys Lippen, damit sie nicht weitersprach. Ein geheimnisvolles Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Vertraust du mir?«, fragte er schließlich.
Die Antwort kam prompt. »Unbedingt.«
»Dann beweis es. Ich möchte, dass du die Zwillinge beschützt. Und sie ausbildest«, fügte er hinzu.
»Sie ausbilden? Weißt du, worum du mich da bittest?«
Flamel nickte. »Ich möchte, dass du sie auf das vorbereitest, was kommt.«
»Und was ist das?«
»Ich habe keine Ahnung.« Flamel lächelte. »Ich weiß nur, dass es etwas Schlimmes ist.«
»Uns geht es prima, Mom, ehrlich.« Sophie Newman kippte das Handy etwas zur Seite, damit ihr Bruder mithören konnte. »Ja, Perry Fleming ging es nicht gut. Sie hat wahrscheinlich etwas Falsches gegessen. Jetzt ist sie wieder in Ordnung.« Sophie spürte, wie sich in den feinen Härchen in ihrem Nacken Schweißperlen sammelten. Sie log ihre Mutter nur ungern an, auch wenn die so sehr in ihrer Arbeit aufging, dass sie sich ohnehin nie die Mühe machte, etwas nachzuprüfen.
Joshs und Sophies Eltern waren als Archäologen weltweit bekannt. Sie hatten in ihrer Fachwelt einen exzellenten Ruf und waren unter den Ersten gewesen, die in Indonesien die Existenz der neuen Spezies kleiner Hominiden nachweisen konnten, die heute allgemein Hobbits genannt werden. Josh sagte immer, seine Eltern lebten in der Vergangenheit, und zwar am liebsten vor fünf Millionen Jahren, und seien nur glücklich, wenn sie bis zu den Knöcheln im Dreck stünden. Die Zwillinge wussten, dass sie bedingungslos geliebt wurden, aber sie wussten auch, dass ihre Eltern sie ganz einfach nicht verstanden. So wie sie überhaupt den modernen Alltag an sich nicht verstanden.
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