Scathachs Gesicht verriet nichts, als sie antwortete: »Es bedeutet, dass ihr außergewöhnliche Kräfte habt. Alle großen Magier und Zauberer der Vergangenheit, die heroischen Befehlshaber und begnadeten Künstler hatten reinfarbige oder einfarbige Auren.«
Die Zwillinge schauten sich verunsichert an. Das war jetzt wirklich zu verrückt und etwas an Scathachs ausdrucksloser Miene erschreckte sie.
Plötzlich waren Sophies Augen voller Angst. »Mir ist gerade eingefallen, dass beide, Johanna von Orléans und Tutanchamun, jung gestorben sind.«
»Sehr jung«, bestätigte Josh ernüchtert. Er hatte in Geschichte immer gut aufgepasst. »Beide waren gerade mal neunzehn.«
»Stimmt.« Scathach drehte sich um und schaute hinüber zu Nicholas Flamel und der Göttin mit den drei Gesichtern.
»Humani!«, zischte Hekate. »Humani mit silberner und goldener Aura.« Sie klang verwirrt und wütend zugleich.
»Das kam schon vor«, erinnerte Flamel sie nachsichtig.
»Glaubst du, das weiß ich nicht?«
Sie standen am Ufer eines plätschernden Baches, der sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte und in einen achteckigen, mit weißen Wasserlilien gesprenkelten Teich mündete. Riesige rote und albinoweiße Kois schwammen in dem kristallklaren Wasser.
»Die beiden Aurafarben sind mir noch nie zusammen begegnet und noch nie bei Zwillingen. Sie besitzen gewaltige schlafende Kräfte«, sagte Flamel eindringlich. »Muss ich dich an den Codex erinnern? ›Die zwei, die eins sind, und das eine, das alles ist‹ – die allererste Prophezeiung Abrahams?«
»Ich kenne sie«, sagte Hekate und schnaubte. Ihr Gewand war jetzt von roten und schwarzen Adern durchzogen. »Ich war dabei, als der alte Dummkopf sie verkündete.«
Flamel wollte etwas fragen, hielt dann aber lieber den Mund.
»Allerdings hat er sich nie getäuscht«, fuhr Hekate leise fort. »Er wusste, dass Danu Talis in den Wellen versinken und unsere Welt untergehen würde.«
»Er hat aber genauso vorhergesagt, dass es einen neuen Anfang geben wird«, erinnerte Flamel sie. »Wenn ›die zwei, die eins sind, und das eine, das alles ist‹ da sind, wenn Sonne und Mond vereint sind.«
Hekate neigte den Kopf zur Seite und ließ den Blick aus ihren Katzenaugen noch einmal kurz hinüberhuschen zu Josh und Sophie. »Gold und Silber, Sonne und Mond.« Wieder an Flamel gewandt, fragte sie: »Glaubst du, dass die Prophezeiung sich auf sie bezieht?«
»Ja«, erwiderte er ohne Zögern. »Das glaube ich. Ich muss.«
»Warum?«
»Weil jetzt, wo ich den Codex nicht mehr habe, Dee anfangen kann, die Dunklen des Älteren Geschlechts zurückzuholen. Wenn die Zwillinge die sind, von denen die Prophezeiung spricht, könnte ich es – nach entsprechendem Training – zusammen mit ihnen schaffen, das zu verhindern – und Perenelle zu retten.«
»Und wenn du dich irrst?«
»Dann habe ich die Liebe meines Lebens verloren und diese Welt und alle Humani auf ihr sind ebenfalls verloren. Aber wenn wir auch nur die geringste Chance auf Erfolg haben wollen, brauche ich deine Hilfe.«
Hekate seufzte. »Es ist lange her … sehr lange her, dass ich einen Schüler ausgebildet habe.« Sie schaute zu Scathach hinüber. »Und der ist nicht besonders gut geraten.«
»Das ist etwas anderes. Dieses Mal würdest du mit unverbrauchtem Talent arbeiten, mit reinen, unverdorbenen Kräften. Aber wir haben nicht viel Zeit.« Flamel holte tief Luft und redete in formellem Ton weiter: »Tochter des Perses und der Asteria, du bist die Göttin der Zauberkunst und der Magie, ich bitte dich, die magischen Kräfte in den Zwillingen zu wecken.«
»Angenommen, ich tue es – was dann?«, fragte Hekate.
»Dann führe ich sie in die fünf Zweige der Magie ein. Gemeinsam werden wir den Codex zurückholen und Perenelle retten.«
Die Göttin mit den drei Gesichtern lachte bitter und zornig auf. »Sieh dich vor, Nicholas Flamel, Alchemyst, damit du nicht etwas hervorbringst, das uns alle vernichtet.«
»Wirst du es tun?«
»Ich muss es mir überlegen. Ich werde dich meine Antwort wissen lassen.«
Im Wagen auf der anderen Seite der Lichtung merkten Sophie und Josh plötzlich, dass Flamel und Hekate sich zu ihnen umgedreht hatten und sie anschauten. Ein Schauer überlief sie.
» I rgendetwas stimmt mit diesem Haus nicht.« Sophie kam mit ihrem teuren Handy in das Zimmer ihres Bruders. »Ich finde nirgendwo ein Netz.« Sie ging im Zimmer umher, den Blick immer auf das Display gerichtet, aber es tat sich nichts.
Josh sah seine Schwester verdutzt an. »Etwas stimmt mit diesem Haus nicht?«, wiederholte er ungläubig. Sehr langsam fuhr er fort: »Sophie, wir befinden uns in einem Baum! Schon allein damit stimmt etwas nicht.«
Nachdem Hekate mit Flamel gesprochen hatte, war sie, ohne ein weiteres Wort mit ihnen gewechselt zu haben, im Wald verschwunden und hatte es Nicholas überlassen, sie zu ihrem Heim zu bringen. Er hieß sie den Wagen stehen lassen und führte sie auf einem schmalen, gewundenen Pfad durch den dichten Wald. Sie waren so fasziniert gewesen von der seltsamen Flora – riesige blau-rote Blüten, die sich drehten, um ihnen nachzuschauen, Ranken, die ihnen wie Schlangen hinterherkrochen, Gräser, die es seit dem Oligozän nicht mehr gegeben hatte -, dass sie gar nicht gemerkt hatten, dass der Weg breiter geworden war und sie vor dem Heim der Göttin standen. Selbst als sie aufschauten, dauerte es einige Augenblicke, bis ihnen klar wurde, was sie da sahen.
Vor ihnen, mitten auf einem offenen, leicht ansteigenden Gelände, das mit großen bunten Blumeninseln durchsetzt war, stand ein Baum. Er war so hoch und breit wie ein großer Wolkenkratzer. Auf den belaubten Ästen des Wipfels lag ein Kranz aus weißen Wolkenfetzen und die wie Krallenfinger über der Erde liegenden Wurzelteile hatten die Größe von Autos. Der Baumstamm war knorrig und verdreht und die Rinde wies tiefe Kerben auf. Lange Ranken wanden sich wie dicke Rohre um den Stamm und baumelten von den Ästen.
»Hekates Heim«, erklärte Flamel. »Ihr seid seit zweitausend Jahren die ersten lebenden Humani, die es zu sehen bekommen. Selbst ich habe bisher nur darüber gelesen.«
Scatty musste lachen, als sie die Gesichter der Zwillinge sah. Sie stieß Josh an. »Was hast du denn gedacht, wo sie wohnt? In einem Wohnwagen?«
»Ich habe gar nichts... also, ich weiß nicht... ich dachte nicht …«, stammelte Josh. Der Anblick war so atemberaubend, und von dem wenigen, das er in Biologie gelernt hatte, wusste er, dass kein lebendiger Organismus so groß werden konnte. Kein normaler lebendiger Organismus, korrigierte er sich in Gedanken.
Sophie fand, der Baum sähe aus wie eine uralte, bucklige Frau. Wenn Flamel über seine fast siebenhundertjährige Vergangenheit sprach oder eine zweitausend Jahre alte Kriegerin und eine zehntausend Jahre alte Göttin, dann war das gut und schön. Die Zahlen bedeuteten fast gar nichts, weil man sie ihren Gesichtern nicht ansah. Den Baum mit eigenen Augen zu sehen, war dagegen etwas ganz anderes. Sophie und ihr Bruder hatten schon vorher alte Bäume gesehen. Ihre Eltern hatten ihnen die gigantischen, dreitausend Jahre alten Mammutbäume gezeigt, und sie hatten eine Woche lang mit ihrem Vater in den White Mountains im Norden Kaliforniens gezeltet, als er den Methusalembaum untersuchte, der mit fast fünftausend Jahren als der älteste lebende Organismus auf unserem Planeten gilt. Wenn man vor dem Methusalembaum stand, einer knorrigen Grannenkiefer, fiel es einem nicht schwer, sein hohes Alter zu akzeptieren. Als Sophie Hekates Baumhaus betrachtete, war sie fest überzeugt, dass es noch Jahrtausende älter war.
Sie waren einem mit glatt polierten Steinen gepflasterten Weg gefolgt, der direkt zu dem Baum führte. Beim Näherkommen stellten sie fest, dass er einem Wolkenkratzer ähnlicher war, als sie anfangs gedacht hatten. Hunderte von Fenstern waren in die Rinde geschnitten und man sah Licht in den dahinter liegenden Räumen. Doch erst als sie vor dem Haupteingang standen, konnten sie ermessen, was für einen gewaltigen Umfang der Baum tatsächlich hatte. Die glatt geschliffene Doppeltür war mindestens sechs Meter hoch und doch öffnete sie sich auf lediglich einen leichten Fingerdruck von Flamel. Die Zwillinge betraten eine riesige runde Eingangshalle.
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