»Sie muss dafür bezahlen! Sie muss!«
»Sie ist eine Erstgewesene. Unantastbar für unsereinen.« Dee versuchte offensichtlich, die Morrigan zu beruhigen.
» Niemand ist unantastbar. Sie hat sich eingemischt, wo sie nicht erwünscht war. Meine Kinder hatten den Wagen fast schon überwältigt, als ihr Geisterwind sie davonriss.«
»Flamel, Scathach und die beiden Humani sind entkommen.« Dees Stimme hallte, und Perry musste sich sehr anstrengen, um jedes Wort zu verstehen. Es freute sie, dass Nicholas Scathach um Hilfe gebeten hatte; sie war eine ausgezeichnete Verbündete. »Sie sind wie vom Erdboden verschwunden.«
»Sie sind vom Erdboden verschwunden«, fauchte die Morrigan. »Er hat sie in Hekates Schattenreich gebracht.«
Perenelle nickte instinktiv. Natürlich! Wohin sonst? Der Eingang zu Hekates Schattenreich im Mill Valley lag in unmittelbarer Nähe von San Francisco. Hekate war zwar nicht unbedingt eine Freundin der Flamels, aber sie weigerte sich auch, Dee und die Dunklen Älteren zu unterstützen.
»Wir müssen ihnen nach«, bestimmte die Morrigan kategorisch.
Dee versuchte, sie zur Vernunft zu bringen. »Unmöglich. Ich habe weder die nötigen Fähigkeiten noch die Macht, in Hekates Schattenreich einzudringen.« Es entstand eine kleine Pause, dann fügte er hinzu: »Und du auch nicht. Sie ist eine Erstgewesene, vergiss das nicht. Sie entstammt der ersten Generation des Älteren Geschlechts und du bist aus der nächsten Generation.«
»Aber sie ist nicht die einzige Erstgewesene an der Westküste!« Triumph klang aus der Stimme der Morrigan.
»Was schlägst du vor?« In Dees Frage schwang wieder Angst mit und sein englischer Akzent kam durch.
»Ich weiß, wo Bastet schläft.«
Perenelle Flamel lehnte sich an die kalte Mauer und ließ ihre Sinne langsam wieder zurückkommen. Der Tastsinn kam zuerst – spitze Nadeln schossen durch ihre Finger und Zehen -, dann der Geruchs- und Geschmackssinn und schließlich das Sehvermögen. Während sie blinzelnd wartete, bis die winzigen bunten Lichtpünktchen vor ihren Augen verschwanden, versuchte sie zu begreifen, was sie gerade erfahren hatte.
Die Morrigan wollte Bastet wecken und Hekates Schattenreich angreifen, um an die fehlenden Seiten aus dem Codex zu gelangen. Was das für Folgen hätte, mochte sie sich gar nicht vorstellen.
Perenelle schüttelte sich. Sie war Bastet nie begegnet – und sie kannte auch niemand, der eine Begegnung mit ihr überlebt hätte, zumindest nicht in den letzten drei Jahrhunderten -, aber sie kannte ihren Ruf. Bastet war eine der mächtigsten im Älteren Geschlecht, eine Erstgewesene wie Hekate, und sie war in Ägypten seit Beginn der Menschheit als Göttin verehrt worden. Sie hatte den Körper einer wunderschönen jungen Frau und den Kopf einer Katze, doch Perenelle hatte keine Ahnung, über welche magischen Kräfte sie verfügte.
Die Ereignisse folgten einander Schlag auf Schlag. Das war ungewöhnlich. Etwas Großes geschah. Als Nicholas und Perenelle vor etlichen Jahrhunderten das Geheimnis ewigen Lebens entdeckten, hatten sie gemerkt, dass ihre unbegrenzte Lebenszeit es ihnen erlaubte, die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen. Sie planten nichts mehr Tage oder Wochen im Voraus, sondern machten stattdessen Pläne für die nächsten Jahrzehnte. Perry hatte begriffen, dass die mächtigen Wesen des Älteren Geschlechts, deren Leben noch unendlich viel länger war, Pläne für die nächsten Jahrhunderte machen konnten. Und das bedeutete, dass die Dinge oftmals ausgesprochen langsam vorangingen.
Doch nun war die Morrigan da. Als sie das letzte Mal in die Welt der Menschen gekommen war, hatte man sie in den sumpfigen Schützengräben entlang des Flusses Somme gesehen. Davor war sie über die blutgetränkten Schlachtfelder des amerikanischen Bürgerkriegs gestreift. Die Krähengöttin wurde vom Tod angezogen; er umgab sie wie ein fauliger Gestank. Und sie gehörte zu den Dunklen Älteren – zu denjenigen, die überzeugt waren, die Menschen seien auf diese Erde geschickt worden, um ihnen zu dienen.
Nicholas und die Zwillinge waren in Hekates Schattenreich in Sicherheit, doch wie lange? Bastets Macht musste mindestens so groß sein wie die von Hekate. Und falls die Katzengöttin und die Krähengöttin Hekate gemeinsam angriffen, unterstützt auch noch von den Zauberkräften, die Dee besaß – würde Hekate sich dann noch erfolgreich verteidigen können? Perenelle wusste es nicht.
Und was würde dann aus Nicholas, Scathach und den Zwillingen?
Perenelle spürte Tränen in den Augen, doch sie blinzelte sie weg. Nicholas wurde in drei Monaten, am 28. September, 677 Jahre alt. Er konnte selbst auf sich aufpassen, auch wenn es mit praktischen Zaubersprüchen bei ihm nicht allzu weit her war und er fürchterlich vergesslich sein konnte. Erst letzten Sommer hatte er eine Phase gehabt, in der er zunehmend englische Wörter vergessen hatte und in sein uraltes Französisch zurückgefallen war. Davor hatte es eine Zeit gegeben, in der er seine Schecks mit griechischen und aramäischen Schriftzeichen unterschrieben hatte. Perenelle musste lächeln. Nicholas sprach sechzehn Sprachen fließend und weitere zehn mehr schlecht als recht. Lesen und schreiben konnte er alle davon – auch wenn er in diesen Tagen wenig Gelegenheit hatte, sein Linear B, die Keilschrift oder ägyptische Hieroglyphen in der Praxis anzuwenden.
Sie überlegte, was er jetzt wohl gerade tat. Er würde nach ihr suchen, selbstverständlich, aber er musste auch auf die Zwillinge aufpassen und auf die beiden Buchseiten, die Josh aus dem Codex herausgerissen hatte. Sie musste ihm eine Nachricht zukommen lassen, musste ihn wissen lassen, dass es ihr gut ging, und ihn vor der Gefahr warnen, in der sie schwebten.
Eine der ersten Gaben, die die kleine Perenelle Delamere an sich entdeckt hatte, war die Fähigkeit gewesen, mit den Schatten der Toten zu sprechen. Erst an ihrem siebten Geburtstag hatte sie festgestellt, dass nicht alle die flackernden Schwarz-Weiß-Bilder sehen konnte, denen sie immer wieder begegnete. Am Abend vor ihrem siebten Geburtstag war nämlich ihre geliebte Großmutter Mamom gestorben. Perenelle hatte zugesehen, wie man den ausgezehrten Körper vorsichtig von dem Bett hob, in dem die Großmutter die letzten zehn Jahre ihres Lebens verbracht hatte, und in den Sarg legte. Das kleine Mädchen war mit dem Trauerzug durch ihr Dorf und hinaus auf den Friedhof gegangen, von dem aus man über das Meer schauen konnte. Sie hatte zugesehen, wie die kleine, aus rohen Brettern zusammengezimmerte Kiste in die Erde gesenkt wurde, und war danach nach Hause gegangen.
Und Mamom hatte im Bett gesessen mit glänzenden Augen, in denen wie immer der Schalk blitzte. Der einzige Unterschied war der, dass Perenelle ihre Großmutter nicht mehr ganz so klar und deutlich sehen konnte. Sie sah sie auch nicht mehr in Farbe – alles an ihr war nur noch schwarz-weiß.
In diesem Moment hatte Perenelle erkannt, dass sie Geister sehen konnte. Und als Mamom sich ihr zuwandte und lächelte, wusste sie, dass sie auch von ihnen gesehen werden konnte.
Als Perenelle jetzt in der kleinen Zelle saß, streckte sie die Beine lang aus und presste beide Hände auf den kalten Betonboden. Im Lauf der Jahre hatte sie eine Reihe von Abwehrmechanismen entwickelt, um sich vor unerwünschten Störungen durch Tote zu schützen. Denn eines hatte sie schon früh erfahren müssen: dass die Toten – und besonders diejenigen, die schon sehr lange tot waren – ausgesprochen unhöflich waren und in den ungelegensten Momenten auftauchen konnten. Badezimmer mochten diese körperlosen Schatten ganz besonders gern, denn dort waren die Bedingungen ideal für sie: Es war ruhig, und es gab jede Menge spiegelnde Oberflächen, in denen sie leicht erscheinen konnten.
Perenelle hatte rasch gelernt, dass Geister bestimmte Farben nicht erkennen konnten – Blau- und Grüntöne und gewisse Abstufungen von Gelb -, und so holte sie ganz bewusst diese Farben in ihre Aura und verschaffte sich einen Schutzschild, der sie in dem Reich, wo die Totenschatten sich versammelten, unsichtbar machte.
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