Josh, der argwöhnisch etwas beäugte, das er aus einer großen Schüssel mit Eintopf gegabelt hatte und das wie ein Stück Fisch aussah, schaute den Männern nach. »Hab ich gesehen«, sagte er cool.
Sie trat ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein. »Das stimmt doch überhaupt nicht«, flüsterte sie. »Du warst doch viel zu sehr mit deinem Essen beschäftigt.«
»Ich habe Hunger!« Er beugte sich zu seiner Schwester hinüber. »Aber ich hab’s an den roten Haaren und der Schweinenase erkannt«, sagte er leise. »Du doch auch, oder?«
»Es wäre ein Fehler, sie das hören zu lassen«, unterbrach Nicholas Flamel sie. »Genauso wäre es ein Fehler, nach dem Äußeren zu urteilen oder überhaupt Kommentare zu dem abzugeben, was ihr hier seht. In dieser Zeit und an diesem Ort gelten andere Maßstäbe und Kriterien. Hier können Worte zu Waffen werden...«
»… und euch töten«, fügte Scathach gelassen hinzu. Sie hatte sich den Teller mit verschiedenem Gemüse vollgeladen, von dem die Zwillinge nur einige wenige Sorten erkannten. Sie nickte in Richtung Baum. »Aber ihr habt recht, es sind Torc Allta in ihrer menschlichen Gestalt. Wahrscheinlich die besten Krieger aller Zeiten.«
»Sie werden euch begleiten, wenn ihr diesen Ort wieder verlasst«, sagte die alte Frau plötzlich. Dafür, dass die Stimme aus einem so zerbrechlich wirkenden Körper kam, war sie erstaunlich kräftig.
Flamel deutete eine Verbeugung an. »Es wird uns eine Ehre sein.«
»Ihr braucht euch nicht geehrt zu fühlen«, gab die alte Frau zurück. »Sie begleiten euch nicht allein zu eurem Schutz; sie sollen sicherstellen, dass ihr mein Reich auch wirklich verlasst.« Sie legte die schmalgliedrigen Hände auf den Tisch, und Sophie sah erst jetzt, dass jeder Fingernagel in einer anderen Farbe bemalt war. Seltsamerweise schienen es genau dieselben Farben zu sein, die Sophie auch an Hekate aufgefallen waren. »Ihr könnt hier nicht bleiben«, verkündete die Frau abrupt. »Ihr müsst gehen.«
Die Zwillinge schauten sich an. Warum war sie plötzlich so unfreundlich?
Scathach wollte etwas sagen, doch Flamel drückte ihren Arm.
»Wir wollen dir bestimmt nicht lästig fallen«, sagte der Alchemyst zuvorkommend. Die Abendsonne schien durch das Laub des Baumes auf sein Gesicht und ließ seine Augen glänzen. »Aber nachdem Dee in meinen Laden eingefallen war und den Codex an sich gebracht hatte, wurde mir klar, dass es keine andere Zuflucht für mich gab.«
»Du hättest nach Süden gehen sollen.« Das Kleid der alten Frau war jetzt fast vollkommen schwarz; die wenigen roten Fäden darin sahen wie Adern aus. »Dort wärst du willkommen gewesen. Ich möchte, dass du gehst.«
»Als mir klar wurde, dass sich die Prophezeiung erfüllt, wusste ich, dass ich zu dir kommen muss«, fuhr Flamel unbeirrt fort. Den Zwillingen, die dem Gespräch intensiv lauschten, war aufgefallen, dass er ganz kurz in ihre Richtung geschaut hatte.
Auch die alte Frau wandte ihnen nun den Kopf zu und schaute sie aus ihren buttergelben Augen an. Ihr verhutzeltes Gesicht verzog sich zu einem humorlosen Lächeln. »Ich habe darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass sich die Prophezeiung nicht auf Humani bezieht – und ganz gewiss nicht auf Humani-Kinder«, fügte sie verächtlich hinzu.
Die Verachtung war es, die Sophie auf die Palme brachte. »Ich wünschte, Sie würden nicht über uns reden, als wenn wir nicht da wären.«
»Außerdem«, meldete sich nun auch Josh zu Wort, »wollte Ihre Tochter uns helfen. Wollen wir nicht warten, was sie dazu zu sagen hat?«
Die Frau blinzelte und hob fragend die kaum sichtbaren Augenbrauen. »Meine Tochter?«
Sophie sah, dass Scathach überrascht oder als Warnung die Augen aufriss, doch Josh ließ sich nicht bremsen.
»Ja, die Frau, die wir heute Nachmittag getroffen haben. Die jüngere Frau – war es nicht Ihre Tochter? Oder vielleicht auch Ihre Enkelin. Jedenfalls wollte sie uns helfen.«
»Ich habe weder eine Tochter noch eine Enkelin!« Lange rote Farbbahnen leuchteten jetzt auf dem schwarzen Kleid der alten Frau. Sie fletschte die Zähne und fauchte etwas Unverständliches. Die Finger ihrer nach oben gewandten Hände bogen sich zu Krallen und in der Luft lag plötzlich Limonenduft. Dutzende grüner, tanzender Lichtkugeln sammelten sich in ihren Handflächen.
Unvermittelt rammte Scathach einen zweischneidigen Dolch mitten in den Tisch. Das Holz brach mit einem donnernden Krachen in zwei Hälften, Splitter flogen durch die Luft und die vollen Schüsseln fielen auf den Boden und zerbrachen. Die alte Frau wich zurück und das grüne Licht tropfte wie eine Flüssigkeit von ihren Fingern. Zischend und dampfend lief es ein Stück über Plattform und Ast, bevor es ins Holz sickerte.
Im nächsten Augenblick standen die vier Torc Allta mit sensenähnlich gebogenen Schwertern hinter der Frau. Drei weitere in Ebergestalt brachen durchs Unterholz, galoppierten über den Ast nach oben und bauten sich hinter Flamel und Scathach auf.
Die Zwillinge hatten keine Ahnung, was da gerade passierte. Sie wagten nicht, sich zu bewegen, solche Angst hatten sie.
Nicholas Flamel hatte ungerührt zu einem weiteren Apfel gegriffen und damit begonnen, ihn zu schälen und zu zerteilen. Scathach steckte in aller Ruhe ihren Dolch zurück in die Scheide und verschränkte die Arme. Sie sagte etwas zu der alten Frau. Sophie und Josh sahen, dass ihre Lippen sich schnell bewegten, hörten jedoch nur ein leises Sirren wie von einer Mücke.
Die Frau antwortete nicht. Mit ausdruckslosem Gesicht erhob sie sich und verließ, umgeben von ihren Torc-Allta-Wachen, die Plattform. Dieses Mal standen weder Flamel noch Scathach auf.
In dem langen Schweigen, das folgte, bückte Scathach sich, hob etwas von dem Obst und Gemüse auf, wischte es ab und legte die Früchte in die einzige heil gebliebene Holzschale. Dann begann sie zu essen.
Josh öffnete den Mund, um dieselbe Frage zu stellen, auf die auch seine Schwester gern eine Antwort gehabt hätte. Doch Sophie drückte unter dem Tisch seinen Arm, damit er schwieg. Sie wusste, dass gerade etwas höchst Gefährliches geschehen war und dass Josh irgendwie damit zu tun hatte.
»Das ging noch mal gut«, meinte Scathach schließlich.
Flamel hatte seinen Apfel aufgegessen und säuberte die Kanten der schwarzen Speerspitze an einem Blatt. »Kommt darauf an, was du unter ›gut‹ verstehst.«
Scathach hatte von einer rohen Karotte abgebissen. »Wir leben noch und sind immer noch in ihrem Schattenreich«, sagte sie. »Könnte schlimmer sein. Die Sonne geht unter. Unsere Gastgeberin braucht ihren Schlaf und morgen früh wird sie wie umgewandelt sein. Wahrscheinlich erinnert sie sich nicht einmal mehr daran, was heute Abend passiert ist.«
»Was hast du zu ihr gesagt?«, wollte Flamel wissen. »Ich habe es nie geschafft, die Sprache der Älteren zu lernen.«
»Ich habe sie lediglich an die alte Pflicht der Gastfreundschaft erinnert und ihr versichert, dass die Beleidigung nicht beabsichtigt war und aus Unwissenheit geschah und deshalb nach den Gesetzen des Älteren Geschlechts kein Vergehen darstellt.«
»Sie hat Angst...«, murmelte Flamel. Er schaute zu dem gewaltigen Baumstamm hinüber. Man sah die Torc-Allta-Wachen drinnen hin und her gehen; der größte der wilden Eber war draußen geblieben und bewachte die Tür.
»Sie hat immer Angst, wenn es Abend wird. Dann ist sie am verletzlichsten«, sagte Scathach.
»Es wäre schön«, unterbrach Sophie sie, »wenn uns mal jemand erklären könnte, was genau da eben passiert ist.« Sie hasste es, wenn Erwachsene miteinander redeten und die anwesenden Jugendlichen einfach ignorierten.
Scathach lächelte und ihre Zähne erschienen plötzlich sehr lang. »Dein Bruder hat es geschafft, eine Erstgewesene zu beleidigen, und wäre für dieses Vergehen fast in grünen Schleim verwandelt worden.«
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