Will führ herum, als er die Tür hinter ihm zuschlug, und für einen Atemzug zeigte sein Gesicht dieselbe Überraschung wie früher, wenn Jacob sich im Park hinter einem Baum versteckt hatte. Aber nichts in seinem Blick deutete darauf hin, dass er ihn erkannte. Der Fremde mit dem Gesicht seines Bruders. Den Goldenen Ball fing Will trotzdem. Die Hände hatten ihr eigenes Gedächtnis. Fang schon, Will! Der Ball verschluckte ihn wie der Frosch die Fliege und auf dem Hof blickte der steinerne König sich vergebens nach seinem Schatten um.
Jacob hob den Ball auf und setzte sich auf eines der Betten. Sein eigenes Gesicht blickte ihm aus dem Gold entgegen, verzerrt wie im Spiegel seines Vaters. Er konnte nicht sagen, was ihn an Clara denken ließ - vielleicht war es der Krankenhausgeruch, der immer noch zwischen den Mauern hing, so anders und doch derselbe wie in der anderen Welt -, aber für einen Moment, nur einen kurzen Moment, ertappte er sich dabei, dass er sich ausmalte, wie es wäre, den Goldenen Ball einfach zu vergessen. Oder ihn in die Truhe in Chanutes Gasthaus zu legen.
Was ist los mit dir, Jacob? Wirkt das Lerchenwasser immer noch? Oder hast du Angst, dass dein Bruder, selbst wenn die Fee ihr Versprechen hält, für immer der Fremde bleiben wird, dem der Hass auf dich das Gesicht entstellt?
Die Fee erschien so unvermittelt in der Tür, als hätte er sie mit seinen Gedanken herbeigerufen.
»Sieh an«, sagte sie und musterte den Goldenen Ball in Jacobs Händen. »Ich habe das Mädchen gekannt, das mit diesem Ball gespielt hat, lange bevor du oder dein Bruder geboren wart. Sie hat nicht nur einen Bräutigam damit gefangen, sondern auch ihre ältere Schwester und sie zehn Jahre nicht wieder hinausgelassen.«
Ihr Kleid wischte über den staubigen Boden, als sie auf Jacob zutrat.
Er zögerte, doch schließlich legte er ihr den Ball in die Hand. »Zu schade«, sagte sie, während sie ihn an die Lippen hob.
»Dein Bruder ist so viel schöner mit einer Haut aus Jade.« Dann hauchte sie auf die schimmernde Oberfläche, bis das Gold beschlug, und gab Jacob den Ball zurück.
»Was?«, fragte sie, als er sie zweifelnd ansah. »Du traust der falschen Fee.«
Sie trat so nah an ihn heran, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spürte.
»Hat meine Schwester dir gesagt, dass jeder Mensch, der meinen Namen ausspricht, des Todes ist? Er wird langsam kommen, wie es zur Rache einer Unsterblichen passt. Vielleicht bleibt dir noch ein Jahr, aber du wirst ihn schon bald spüren. Ich zeig ihn dir.«
Sie legte ihm die Hand auf die Brust und Jacob spürte einen stechenden Schmerz über dem Herzen. Blut sickerte ihm durchs Hemd, und als er es aufriss, sah er, dass die Motte auf seiner Haut zum Leben erwacht war. Jacob packte ihren angeschwollenen Leib, aber sie hatte die Krallen so tief in sein Fleisch geschlagen, dass es sich anfühlte, als risse er sich das eigene Herz aus der Brust.
»Man sagt, für Menschen fühlt die Liebe sich an wie der Tod«, sagte die Fee. »Ist das wahr?«
Sie zerdrückte die Motte auf Jacobs Brust und es blieb erneut nichts als ein Abdruck auf seiner Haut.
»Lass deinen Bruder heraus, sobald das Gold nicht mehr beschlagen ist«, sagte sie. »Es wartet eine Kutsche am Tor für dich und die, die mit dir gekommen sind. Aber vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Bring ihn so weit fort von mir, wie du kannst.«
52
UND WENN SIE NICHT GESTORBEN SIND
Der Turm und die verbrannten Mauern. Die frischen Spuren der Wölfe. Es schien, als wären sie eben erst aufgebrochen. Aber die Räder der Kutsche versanken in frisch gefallenem Schnee, als Jacob die Pferde zwischen den Bäumen anhielt.
Fuchs sprang aus der Kutsche und leckte sich das kalte Weiß von den Pfoten, während Jacob vom Kutschbock stieg und den Goldenen Ball aus der Tasche zog. Die Oberfläche war kaum noch beschlagen und der bewölkte Morgenhimmel spiegelte sich darin. Jacob hatte den Ball unterwegs so oft angesehen, dass Fuchs vermutlich längst erriet, was sich darin verbarg. Doch Clara hatte er noch nichts gesagt.
Sie hatten zwei Tage zurück zu der Ruine gebraucht, und an der letzten Kutschstation hatten die Pferdeknechte ihnen erzählt, dass die Goyl die Hochzeit ihres Königs in ein Massaker verwandelt und die Kaiserin verschleppt hatten. Mehr wusste niemand.
Fuchs wälzte sich im Schnee, als wollte sie sich die letzten Wochen vom Fell waschen, und Clara stand da und blickte hinauf zu dem Turm. Der Atem hing ihr weiß vorm Mund, und sie schauderte in dem Kleid, das Valiant ihr für die Hochzeit gekauft hatte. Die blassblaue Seide war zerrissen und schmutzig, aber ihr Gesicht erinnerte Jacob immer noch an feuchte Federn, auch wenn darauf nur die Sehnsucht nach seinem Bruder zu finden war.
»Eine Ruine?« Valiant kletterte aus der Kutsche und blickte sich entgeistert um. »Was soll das?«, fuhr er Jacob an. »Wo ist mein Baum?«
Ein Heinzel löste sich aus den Schatten und sammelte hastig ein paar Eicheln aus dem Schnee. »Fuchs, zeig ihm den Baum.«
Valiant stiefelte der Füchsin so eilig hinterher, dass er fast über die eigenen Beine stolperte. Clara sah ihnen nicht nach.
Es schien so lange her, dass Jacob sie zum ersten Mal zwischen den Säulen hatte stehen sehen.
»Du willst, dass ich zurückgehe, oder?« Sie blickte ihn an, wie nur sie es tat. »Sag es ruhig. Ich werde Will nicht wiedersehen. Du kannst es nicht ändern. Ich weiß, du hast alles versucht.«
Jacob griff nach ihrer Hand und legte den Ball hinein. Die Oberfläche war makellos blank, und das Gold schimmerte, als hätte die Sonne selbst es gemacht.
Du traust der falschen Fee.
»Du musst ihn polieren«, sagte er. »Bis du dich so deutlich darin siehst wie in einem Spiegel.«
Dann ließ er sie allein und trat zwischen die verfallenen Mauern. Will würde Claras Gesicht zuerst sehen wollen. Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende. Falls die Dunkle Fee ihn nicht ebenso betrogen hatte wie ihre Schwester.
Jacob schob den Efeu zur Seite, der vor der Tür des Turmes wuchs, und blickte an den verrußten Mauern empor. Er erinnerte sich daran, wie er zum ersten Mal aus der Höhe herabgeklettert war, an einem Seil, das er im Zimmer seines Vaters gefunden hatte. Wo sonst?
Die Haut über seinem Herzen schmerzte immer noch und er spürte den Abdruck der Motte wie ein Brandmal unter dem Hemd. Du hast bezahlt, Jacob, aber was hast du dafür bekommen?
Er hörte, wie Clara leise aufschrie. Und eine andere Stimme ihren Namen sagte. Wills Stimme hatte schon lange nicht mehr so weich geklungen.
Jacob hörte sie flüstern. Lachen.
Er lehnte den Rücken gegen die Mauer, schwarz vom Ruß, feucht von der Kälte, die sich zwischen den Steinen fing.
Es war vorbei. Diese Fee hatte ihr Versprechen gehalten. Jacob wusste es, bevor er den Efeu wieder auseinanderschob. Bevor er Will neben Clara stehen sah. Der Stein war fort und die Augen seines Bruders waren blau. Nichts als blau. Nun geh schon, Jacob.
Will ließ Claras Hände los und blickte ihn fassungslos an, als Jacob zwischen den verschneiten Mauern hervortrat. Aber es war kein Zorn auf dem Gesicht seines Bruders zu finden. Kein Hass. Der jadehäutige Fremde war fort. Obwohl Will immer noch die graue Uniform trug.
Er kam auf Jacob zu, den Blick auf seine Brust geheftet, als sähe er dort immer noch das Blut vom Schuss des Goyl, und umarmte ihn so fest, wie er es zuletzt als Kind getan hatte.
»Ich dachte, du bist tot. Ich wusste, es kann nicht wahr sein!«
Will.
Er trat zurück und musterte Jacob erneut, als müsste er sich vergewissern, dass ihm wirklich nichts fehlte.
»Wie hast du es geschafft?« Er schob den grauen Uniformärmel hoch und strich sich über die weiche Haut. »Es ist fort!«
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